Was wir Deutschen unseren Freunden in der Ukraine und in Russland für die Zeit nach Putin sagen sollten
Putin hat sein Land zum Paria in Europa gemacht. Nach meiner Überzeugung hat er am 24. Februar 2022 zugleich das Ende seiner Herrschaft eingeläutet. Ungewiss sind die Zeit und die Opfer, welche die Ukraine, Russland, das übrige Europa und die westliche Welt aufbringen müssen, um Putin´s Ende zu besiegeln.
Deutschland war Mitte des 20. Jahrhunderts der Paria in Europa. Wir nach dem Krieg geborenen Deutschen können unseren russischen Freunden erzählen, dass unsere Eltern und Grosseltern es jedenfalls im Westen Deutschlands schafften, nach Hitler´s Ende die zerstörten Brücken zu unseren Nachbarn einigermassen schnell wieder aufzubauen.
Und unseren ukrainischen Freunden, denen wir ja bis vor kurzem ebenso wie in Kiew oder Odessa auch in St. Petersburg oder Moskau begegneten, weil sie dort familiär oder beruflich verwurzelt waren, können wir von der Grossmut unserer Nachbarn erzählen. Nach Hitler´s und Nazi-Deutschland´s Ende reichten sie uns Deutschen in zunehmend wachsender Zahl wieder die Hand, nachdem sie von deutschen Truppen brutal okkupiert und drangsaliert und ermordet worden waren.
Diese Bereitschaft zur Vergebung und Versöhnung war auf staatlicher und individueller Ebene anzutreffen und schloss sogar ehemalige jüdische Mitbürger, Holocaust-Überlebende und Nachfahren von Holocaust-Opfern und ihre Verwandten ein. Auch daran können wir unsere ukrainischen Freunde erinnern.
Perspektive der Versöhnung als Teil einer Gesamtstrategie
Heute, ein Jahr nach Putin´s Überfall der Ukraine am 24. Februar 2022 wäre eine solche Erzählung über Versöhnung naiv, unanständig und gefährlich, wenn sie nicht in eine klare, zielgerichtete, mit der Ukraine im Einzelnen abgestimmte Gesamtstrategie eingebunden ist. Sie wäre ansonsten praktisch und ethisch ebenso fragwürdig wie die neuerlichen Aufrufe zur Aufnahme von Friedensverhandlungen durch – von mir teilweise geschätzte und verehrte – deutsche Schriftstellerinnen, Philosophen, Politikerinnen und ehemalige Mitglieder des Deutschen Ethikrats.
Es bleibt festzuhalten, dass Russland seit 2014 bis zum 24. Februar 2022 insgesamt bereits 42.000 Quadrat-Kilometer (qkm) inklusive der Halbinsel Krim völkerrechtswidrig besetzt hat und weitere 119.000 qm im Zuge der Invasion vor einem Jahr eroberte. Insgesamt wurde also eine Gesamtfläche von 161.000 qkm oder mehr als ein Viertel des gesamten Territoriums der Ukraine (604.000 qkm) von Russland okkupiert. Dies entspricht knapp der Hälfte des gesamten Staatsgebiets der Bundesrepublik Deutschland. Bis November 2022 konnten die Streitkräfte der Ukraine gut 70.000 qkm zurückerobern (Quelle: Wikipedia). Demnach ist am Jahrestag des russischen Überfalls etwa ein Sechstel des Territoriums der Ukraine völkerrechtswidrig besetzt. Dies entspricht der Gesamtfläche der Bundesländer Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland Pfalz und Thüringen.
Es bleibt ferner festzuhalten, dass Putin´s Truppen seit einem Jahr mit Raketen, Drohnen, Artillerie und Kampfflugzeugen die gesamte Ukraine terrorisiert, einschliesslich der Hauptstadt Kiew und des im Westen der Ukraine gelegene Lviv (Lemberg). Diese fast täglich vermeldeten völkerrechtswidrigen Akte würden nach den Regeln des Völkerrechts vergleichbare Gegenschläge auf russischem Territorium bis hin zum Beschuss der russischen Hauptstadt rechtfertigen.
Die westlichen Verbündeten der Ukraine legen nach den offiziellen Verlautbarungen bei ihren Waffenlieferungen und den vorhergehenden Debatten grossen Wert darauf, dass diese Waffen nicht zu Angriffen auf russisches Territorium und wohl auch nicht auf der Krim benutzt werden dürfen. Diese der angegriffenen Ukraine auferlegte Zurückhaltung mag mit Blick auf die Atommacht Russland im besten Interesse des „Westens“ und auch der Ukraine sein. Sie bedeutet jedoch, dass die Ukraine ihren Verteidigungskampf mit asymetrischen Strategie-Optionen führen muss, soweit sie sich nicht auf eigene Waffensysteme stützen kann.
Dieser Vorteil für den russischen Aggressor sollte bei der andauernden Diskussion und Entscheidung über Art und Umfang der westlichen Unterstützung des brutal drangsalierten Landes offen angesprochen und im Sinne der Ukraine berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang sei auch an das Budapester Memorandum von 1994 erinnert, in dem Russland und auf westlicher Seite die USA und Grossbritannien der Ukraine im Gegenzug zur Aufgabe und Beseitigung sämtlicher Atomwaffen die staatliche Souveränität und territoriale Unversehrtheit garantierten.
Kriegsziele der Ukraine und des Westens
Was also sind die Ziele der von Putin´s Armee überfallenen Ukraine und der den Abwehrkampf der Ukraine unterstützenden westlichen Verbündeten? Von politischer Seite hört man zu den Kriegszielen in Deutschland wenig konkretes. Diesbezügliche Diskussionen erschöpfen sich zumeist in dem nutzlosen Streit darüber, ob Deutschland die Ukraine unterstützt, damit das brutal drangsalierte Land den Krieg „nicht verlieren“ oder damit es den Krieg gar „gewinnen“ soll.
Aus der neutralen Schweiz meldet sich zum Thema Kriegsziele des „Westens“ der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung Eric Gujer zu Wort. Er schreibt in der NZZ vom 10. Februar 2023 folgendes:
„Der Erhalt der Ukraine als funktionsfähiger Staat und ihre Eingliederung in Nato und EU sollten Priorität haben. Die Befreiung aller besetzten Gebiete ist sekundär.“
Zur Interessenlage im „Westen“ und in der Ukraine führt Gujer weiter aus:
„Der Westen unternimmt grosse Anstrengungen, um Kiew zu unterstützen. Es liegt in seinem Interesse, die russische Aggression gegen Europa abzuwehren. So ist die Ukraine faktisch ein westliches Protektorat. In einem Punkt aber haben die Partner diametral entgegengesetzte Interessen. Die Nato will um keinen Preis in den Krieg hineingezogen werden. Kiew hingegen versucht, den Westen möglichst tief hineinzuziehen.“
Mir erscheint diese wohl manchem geneigten Leser gerade in Deutschland pausibel erscheinende Argumentation als zu oberflächlich und letztlich nicht zu Ende gedacht. Gujer vernachlässigt die europäische Dimension sowohl von Putin´s Angriff als auch des Abwehrkampfs der Ukraine und missversteht folgerichtig auch die Interessenlage des „Westens“. Dabei ignoriert Gujer nicht zuletzt historische Erfahrungen aus Nazi-Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg.
Europäische Dimension
Unmittelbar nach dem Überfall Putins auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ersetzte ich in unserem Hausflur eine liebgewonnene Collage durch eine Europa-Karte. Die Karte erinnert uns als deutsch-russischen Familie täglich daran, dass der Krieg nicht irgendwo „im Osten“, sondern mitten in Europa stattfindet:
Zwar liegt die ukrainische Westgrenze etwa 1.000 Kilometer weit im Osten und nach Kiew sind es sogar 1.500 Kilometer, wenn man die Karte von Frankfurt am Main aus betrachtet, das nur ein paar Kilometer westlich des geographischen Mittelpunkts der Europäischen Union (EU) liegt.
Die Mitte des geographischen Europa, das von Lissabon bis zum Ural reicht, liegt allerdings nicht in Deutschland, sondern im Baltikum etwas nördlich der litauischen Hauptstadt Vilnius. Aus dieser Perspektive zeigt sich ein ganz anderes Bild: nach Westen sind es von Vilnius lediglich etwa 150 Kilometer bis zur Grenze des zu Russland gehörenden Kaliningrad Oblast und 300 Kilometer bis nach Kaliningrad, bis 1945 als Königsberg die Hauptstadt des ehemaligen Ostpreußen. Im Süd-Westen von Vilnius liegt Polen´s Hauptstadt Warschau in 390 Kilometer Entfernung. Nach Süd-Osten sind es von Vilnius nur 180 Kilometer bis Minsk, der Hauptstadt von Belarus, 590 Kilometer bis Kiew, und nach Osten 790 Kilometer bis Moskau.
Die zur EU-gehörenden baltischen Staaten Estland und Lettland haben ebenso wie Finnland eine direkte Grenzen mit Russland. Lettland grenzt zudem wie Litauen und Polen an Belarus. Im Übrigen bildet ukrainisches Staatsgebiet einen Puffer zwischen den EU-Staaten Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien sowie Moldau.
Putin als Brandstifter im Europäischen Haus
Der letzte Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow prägte Mitte der achtziger Jahre den Begriff von einem „gemeinsamen europäischen Haus“, in dem in verschiedenen Zimmern Menschen unter einem Dach leben, die unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und auch Bündnissystemen angehören, aber trotzdem schicksalhaft miteinander verbunden sind.
Die Geschichte hat in Mittel- und Osteuropa in den letzten 35 Jahren einen ganz anderen Verlauf genommen als man das Ende der achtziger Jahre ahnen konnte und als Gorbatschow sich im Zusammenhang mit der Perestroika vorgestellt oder gewünscht hätte. Gorbatschow behielt jedoch, wie uns Putin´s Krieg vor Augen führt, mit folgender Aussage recht:
„…nur zusammen, gemeinschaftlich und indem sie vernünftige Regeln der Koexistenz befolgen, können die Europäer ihr Haus bewahren, es vor Feuersbrunst und anderen Katastrophen schützen, es besser und sicherer machen und es in einwandfreiem Zustand halten…“
(zitiert nach Mössle, Europa und 30 Jahre deutsche Einheit, YOUROPEAN Blog vom 3. Oktober 2020; https://youropean.eu/aktuelles/ ).
Der am 30. August 2022 verstorbene Michail Gorbatschow, der mit seiner Menschlichkeit die deutsche Wiedervereinigung ohne Blutvergießen ermöglichte, musste noch miterleben, wie Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine die Lunte an das Europäische Haus legte. Putin, der an Gorbatschow´s Trauerfeier wegen „Terminproblemen“ nicht teilnahm, weist dessen Politik der Öffnung (Perestroika) die Schuld am Ende der Sowjetunion zu und verkennt dabei, dass diese – ebenso wie die DDR – an systemischer Unfähigkeit des sowjetisch-kommunistischen Staatswesens gescheitert ist.
Nichtsdestotrotz bezeichnet Putin die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, vergleichbar nur mit der Auflösung der alten europäischen Ordnung im Vertrag von Versailles 1919. Mit dieser gewagten historischen Parallele hat Putin die Möglichkeit einer Entwicklung Russlands ähnlich der Entwicklung Deutschlands von 1919 bis zum Zweiten Weltkrieg – politisches und wirtschaftliches Chaos in der Weimarer Republik, „Ordnung“ durch Autokratie, Krieg – wohl ganz bewußt vorgezeichnet.
Durch rücksichtslose Stärkung seiner Machtvertikale nach innen, nicht zuletzt durch politische Morde (Litvinienko 2005, Politkowskaja 2006, Nemzow 2015 und andere) und nach aussen durch völkerrechtswidrige Annexionen (Georgien 2008, Krim, Donezk, Luhansk 2014) und 2022 durch den verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Putin selbst dafür gesorgt, dass sich seine düsteren Prophezeiungen als wahr erweisen.
Putin betätigt sich damit als Brandstifter, der das gemeinsame europäische Haus, dessen „Aufbau“ er in seiner gefeierten Bundestagsrede 2001 beschwor, nicht erneuern, sondern gezielt zerstören will. Für das auf den KGB begründete Macht- und Ausbeutungssystem, das mit Beginn der Präsidentschaft Putins im Jahr 1999 die Herrschaft über Russland an sich gerissen hat, ist das Konzept eines gemeinsamen europäischen Hauses offenbar eine Bedrohung. Bestehende Strukturen für Dialog und Konfliktvermeidung wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 1995 aus der 1975 mit der Schlussakte von Helsinki begründeten KSZE hervorging, haben sich als nicht mehr als tragfähig erwiesen. Dies zeigt das Scheitern der Minsk-Vereinbarungen, auf die nicht zuletzt die deutsche Politik große Hoffnungen setzte.
Das von Putin zerstörte und niedergebrannte gemeinsame europäische Haus kann erst nach der Ära Putin wieder auf neuen soliden Fundamenten aufgebaut werden.
Parallele Interessen und Kriegsziele der Ukraine und ihrer Verbündeten
Zurück zur These des NZZ Chefredakteurs Gujer, wonach die Interessen des „Westens“ und der Ukraine insofern „diametral entgegengesetzt“ sind, als für den Westen die Befreiung „aller besetzten Gebiete“ als Kriegsziel tatsächlich „sekundär“ sei, und der Westen sich jedenfalls zu diesem Zweck nicht von der Ukraine in den Krieg hineinziehen lassen wolle.
Gesetzt den Fall, man würde - vom Stammtisch her betrachtet - Putin die von ihm am 21. Februar 2022 als unabhängige „Teilrepubliken“ anerkannten und Russland nach völkerrechtswidrigen Referenden vom September 2022 einverleibten Gebiete Donezk und Luhansk belassen, ebenso wie die Krim (mit oder ohne Landbrücke?), so würde Putin sich in Russland für eine - wenn auch sehr teuer erkaufte - Rehabilitierung der „Schmach“ von 1991 feiern lassen.
Das könnte man aus Sicht des „Westens“ noch hinnehmen, allerdings nur wenn man daran glaubt, dass Putin (er hat als „Zar“ ab 2024 vermutlich zehn bis fünfzehn Jahre Zeit) damit saturiert wäre und die Gebiets-Arrondierung für abgeschlossen betrachtete. Viel realistischer ist es, dass Putin einen solchen „Sieg“ ungeachtet des hohen Preises (Tote, NATO-Erweiterung, Wirtschaftsdesaster) nur als ersten Schritt betrachten würde, dem natürlich zum Machterhalt seines vermeintlich „vom Westen“ bedrohten Systems weitere Schritte folgen müssten.
Wenn man Gujer‘s Meinung zum richtigen „westlichen“ Kriegsziel folgt, könnte man dieses Risiko in Kauf nehmen und eben „im Westen“ entsprechende militärische Vorkehrungen treffen. Man müsste dann allerdings darauf vertrauen können, dass die Handlungsfähigkeit und Abschreckungskraft der NATO - über mehrere Wahlperioden in den USA, Deutschland und anderen EU-Staaten hinweg - stark genug bleibt, damit Putin den nächsten Schritt, einen Konflikt mit der NATO, z.B. um eine Landbrücke nach Kaliningrad zu schaffen, nicht wagt.
Ob die auf ein solches Ziel gerichtete Strategie des Westens „klüger“ wäre, halte ich für höchst zweifelhaft. Seine Strategie wäre im Ergebnis nichts anderes als ein - nach der Krim Annexion 2014 - zweites Appeasement, das zumindest den europäischen und nicht zuletzt deutschen Interessen diametral entgegenläuft.
Ein Appeasement eines mehrfach selbsterklärten Lügners wie Putin darf es natürlich nicht geben. Ein solches Ziel anzustreben, wäre noch weit naiver als das Münchener Abkommen von 1938, als Hitler außenpolitisch sein Visier - anders als Putin heute - noch gar nicht geöffnet hatte.
Kriegsziele als Teil einer auf Versöhnung gerichteten Gesamtstrategie
Für unsere politischen Verantwortungsträger ist es nicht einfach, in einer existenziellen Auseinandersetzung wie Putin´s Krieg in der Ukraine die Kriegsziele des Westens offen anzusprechen und es könnte sogar unklug sein, die Karten stets offen auf den Tisch zu legen. Andererseits sind im demokratischen Westen Klarheit und Transparenz der Kriegsziele und des unbedingten Willens, sie zu erreichen, die Voraussetzungen dafür, dass die für die Zielerreichung erforderlichen Strategien und Mittel die demokratische Unterstützung der Bevölkerung finden.
Ob die deutsche Bundesregierung hier seit der „Zeitenwende“ am 24. Februar 2022 stets die richtige kommunikative Balance gefunden hat, ist fraglich. Der britische Historiker und Deutschland-Kenner Timothy Garton Ash hat im Zusammenhang mit dem sogenannten ‚Scholzing‘ in der Online-Version von The Guardian vom 3. Februar 2023 deutliche Zweifel zum Ausdruck gebracht:
“I went viral in Germany for a meme about Scholzing – but the chancellor’s hesitancy over Ukraine is no joke.”
https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/feb/03/germany-olaf-scholz-twitter-ukraine (abgerufen am 23.02.2023).
Die Ukraine zeigt die gebotene Willensstärke auf beeindruckende Weise. In der deutschen Politik erkennt die Generation Baerbock wohl instinktiv klarer als die vorhergehende Generation des Bundeskanzlers Scholz – zumal aus der Schröder-Entourage -, dass eine Scheinlösung mit naiven Kriegszielen das Risiko eines direkten Kriegs zwischen Russland und Westeuropa deutlich erhöht, jedenfalls während der 20 Jahre später endenden Lebensspanne der Generation Baerbock.
Im Rahmen einer Diskussion in den sozialen Medien zum ‚Scholzing‘ des Bundeskanzlers beim Thema Lieferung von Kampfpanzern wurde ich gefragt, ob ich „zusätzlich zu den Panzern und sonstigem schweren Gerät“ auch meine Söhne in diesen Krieg schicken würde. Die Frage gab mir die Gelegenheit zur folgenden Klarstellung, die ich in der deutschen Diskussion und politischen Kommunikation seit Putin´s Überfall auf die Ukraine vermisse (Kommentar zu meinem Facebook Post vom 24.01.2023):
„[Die] Frage trifft genau den Punkt. Nur wenn die Ukraine Putin stoppen und zurückdrängen kann, muss Deutschland nicht selbst kämpfen. Darum geht es, wenn ich das als „Scholzing“ bezeichnete Lavieren kritisiere. Wir liefern Waffen nicht aus Hilfsbereitschaft und Solidarität oder schlechtem Gewissen, sondern aus ureigenem (egoistischen) deutschen Interesse. Leider versäumt es die politische Führung ebenso wie die Medien, diesen Punkt klarzustellen. Putin muss - ebenso wie Hitler vor 80 Jahren - gestoppt werden. Die Ukraine ist unser Schutz, daher schicken wir Waffen. Wir wollen keine eigenen Soldaten schicken (anders als dies die Amerikaner gegen Hitler letztlich tun mussten, damit Deutschland besiegt werden konnte).“
Konkretisierung und „propagandistische“ Kommunikation der Kriegsziele
Die Kriegsziele der Ukraine und Ihrer Verbündeten sollten so ausgestaltet sein, dass Putin´s völkerrechtswidrige Gebietsgewinne auf ukrainischem Territorium seit 2014 rückgängig gemacht werden. Die damit zusammenhängenden Völkerrechts-Verletzungen inkl. des Abschusses des Passagierflugzeugs MH17 am 17. Juli 2014 dürfen sich nicht „lohnen“.
Als Teil einer auf Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten gerichteten Gesamtstrategie müssen die Kriegsziele der Ukraine für das Russland nach Putin akzeptabel sein und Putin´s Propaganda entgegenwirken, der „Westen“ wolle Russland zerstören.
Die letztlich auf Versöhnung gerichteten Kriegsziele sollten vom Westen in Abstimmung mit der Ukraine koordiniert und proaktiv auf allen geeigneten Kanälen bis hin zu Flugblättern an die russische Bevölkerung „propagandistisch“ kommuniziert werden. Eine entsprechende Kommunikation könnte die folgenden Friedens-Perspektiven beinhalten:
Beseitigung oder nachhaltige Schwächung des Systems Putin – das hat US-Präsident Biden bereits im März 2022 in Polen klar gesagt, wir Deutschen müssten das am besten verstehen, wenn wir 80 Jahre zurückblicken
Friedensvertrag zwischen der Ukraine und dem Russland nach Putin mit USA, EU und einzelnen EU-Mitgliedstaaten als Garantie-Mächte mit folgenden Eckpunkten:
Rückzug der russischen Besatzer aus allen 2014 und 2022 besetzten Gebieten der Ukraine
- UN-Sonderstatus für Donezk, Luhansk, Krim mit UN-kontrollierten Referenden in 10 Jahren über die Zugehörigkeit zu „Ost“ oder „West“ als möglicherweise für die Ukraine akzeptabler Kompromiss
EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bzw. verbindliche Road Map
„Marshall-Plan“ für die Ukraine unter Schirmherrschaft der EU
Garantie des russischen Flottenstützpunktes Sewastopol inkl. Zugang auf dem Land- und Seeweg für mindestens 50 Jahre
Bestätigung des Status Quo für den Kaliningrad Oblast d.h. Garantie der territorialen Unversehrtheit inkl. Zugang auf dem Land- und Seeweg
Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland inkl. Angebot eines wirtschaftlichen Sonderstatus für den mitten im EU liegenden, aber wirtschaftlich isolierten Kaliningrad Oblast
Abrüstungsverhandlungen aller Kriegsparteien und ihrer Verbündeten in Europa inkl. Kaliningrad Oblast
Bereitschaft Russlands zu separaten Verhandlungen über Reparations-zahlungen Russlands z.B. in Form vergünstigter Gaslieferungen, deren Abschluss keine Vorbedingung für den Friedensvertrag ist
Jeder einzelne Punkt dieser Skizze einer möglichen Verhandlungslösung ist diskussionswürdig. Letztlich geht es darum, den Kriegsparteien und ihren Verbündeten und ihren Bevölkerungen eine auf Versöhnung gerichtete Perspektive aufzuzeigen. Eine solche Verhandlungslösung hat allerdings nach allem was wir heute wissen im ersten Punkt eine entscheidende Voraussetzung, die auf dem Schlachtfeld erst noch geschaffen werden muss.
Deutsch-Russischer Epilog
Putin´s Narrativ von Russland´s Opferrolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion und in den Jahren danach hat auf deutscher Seite nicht zuletzt in den politischen Kreisen verfangen, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückblickend wider jedes bessere Wissen nach wie vor zumindest ebenso in der Rolle des Opfers wie des Täters sehen wollen. Putin´s Propaganda-Maschinerie hat seit seiner Machtübernahme gerade in Deutschland ganze Arbeit geleistet.
Was die russische Seite angeht, werden meine aus St. Petersburg bzw. Leningrad stammende Frau und ich hin und wieder gefragt, wieviel Zustimmung Putin´s Politik und konkret sein Angriffskrieg gegen die Ukraine in der russischen Bevölkerung denn habe. Wir wissen das auch nicht genau, da die Eltern und Schwester meiner Frau in Frankfurt leben, und wir mit Freunden in Russland nicht mehr so offen kommunizieren wie vor dem 24. Februar 2022. Im Übrigen können wir lediglich einzelne Beispiele von Freunden nennen, die Russland bereits verlassen haben, nach Riga, Dubai oder Georgien, und solchen, die in Russland bleiben und entweder politisch schweigen oder sich in sozialen Medien überraschend offen und mutig gegen Putin´s Kriegspolitik stellen.
Die Anschlussfrage, warum sich denn die Russen nicht gegen Putin auflehnen, beantworte ich gerne mit der Gegenfrage, wie das denn in Deutschland in Hitler´s Drittem Reich gewesen sei. In meiner Familie zum Beispiel gab es vorsichtig ausgedrückt keine Widerstandskämpfer, drei meiner Grosseltern waren Parteimitglieder. Meine Oma mütterlicherseits leitete nach 1933 eine NS-Frauenschaft in ihrem dörflichen Wohnort und nahm an einem der frühen Reichsparteitage teil. Nach ihrem Umzug in eine größere Stadt 1935 lehnte sie allerdings die Übernahme einer ähnlichen Aufgabe am neuen Wohnort ab.
Sie war beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 40 Jahre alte und erzählte mir, dass Hitler´s Überfall auf Polen in Deutschland keinesfalls Euphorie auslöste, ganz anders als zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Man habe eher ein sehr ungutes Gefühl gehabt, in dem Sinne, dass es jetzt kein Zurück mehr gebe und der Preis des Krieges hoch sein werde.
Diese anekdotische Anmerkung zu einer vergleichsweise eher gedrückten Stimmung bei Kriegsbeginn in Deutschland ist wahrscheinlich nicht repräsentativ. Sie kontrastiert jedenfalls mit der Kriegs-Euphorie, die in historischen Wochenschauen zumindest aus den ersten Kriegsjahren vermittelt wird, und nicht zuletzt in Filmdokumenten aus Goebbels´ berüchtigter Rede im Berliner Sportpalast – „wollt Ihr den totalen Krieg?“ – vor 80 Jahren am 18. Februar 1943, kurz nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht in Stalingrad.
Es ist durchaus möglich, dass die russische Propaganda bis hin zu Auftritten Putin´s in Fussballstadien vor sorgfältig ausgewähltem Publikum heute die tatsächliche Gemütslage und Sicht der Russen auf Putin und den Krieg als zu positiv erscheinen lässt. Wir sollten uns allerdings aus eigener historischer Erfahrung stets vor Augen halten, dass Zivilcourage in einem demokratischen Rechtsstaat einfacher ist als in einer Autokratie im Kriegszustand.
Mit diesem sehr persönlichen Epilog möchte ich abschliessend darauf hinweisen, dass wir Deutschen in dem bis vor kurzem fast undenkbaren Krieg mitten in Europa unserer historischen Verantwortung in zweifacher Weise gerecht werden sollten:
- Erstens müssen wir mit voller Kraft und Entschlossenheit dazu beitragen, dass nach 80 Jahren nicht schon wieder ein verbrecherischer Aggressor Europa seinen Stempel aufdrücken kann, und dass die ukrainischen Truppen Putin´s Armee auf dem Schlachtfeld stoppen und zurückwerfen können.
- Zweitens müssen wir neben der EU und der NATO das geographische Europa im Blick behalten, zu dem Russland geographisch, historisch und kulturell ohne Wenn und Aber gehört. Wir Deutschen haben eine besondere Verantwortung dafür einzustehen, dass es nicht wieder zu einer Teilung Europas kommt. Wir müssen mit allen Kräften und mit größerer Wachsamkeit als bisher dazu beitragen, dass das von Gorbatschow beschworene gemeinsame europäische Haus jetzt endlich auf solide Fundamente gestellt und mit Leben gefüllt wird.
Dr. Klaus Mössle, Frankfurt am Main, Vorstand und Mitbegründer von YOUROPEAN, 24. Februar 2023
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