Dieser Beitrag ist der Text einer Rede, die ich (Anm. d. Red.: Dr. Tatjana Belgorodski) auf Einladung von Pulse of Europe am 6. März bei einer Anti-Kriegs Veranstaltung in Frankfurt am Main gehalten habe:
Mein Mann und ich haben am 25. Februar drei Kinder meines Bruders an der ukrainisch-polnischen Grenze abgeholt. Mein Bruder, seine Frau und die älteste Tochter blieben in der Ukraine, um zu helfen, das Land zu verteidigen. In diesem Krieg geht es natürlich nicht nur um meine Familie, es geht um Tausende und Millionen von ukrainischen Familien, die durch Russlands Invasion ihr Zuhause verloren, und Tausende, die ihr Leben für ihr Heimatland geopfert haben.
Es geht aber auch noch um sehr viel mehr: Das Recht eines Landes auf Selbstbestimmung, das Recht eines Landes, seine Verbündeten auszuwählen. Und es geht um den unfassbar mutigen Kampf der Ukrainer für ihre Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie.
Meine ukrainische Familie
Ich fange dennoch gerne kurz mit meiner Familie an – stellvertretend für viele Familien aus der Ukraine und damit auch mit einer Insiderperspektive auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte in der Ukraine. Ich bin in Donezk geboren und aufgewachsen, einer Stadt, die 1994, als ich nach Deutschland zum Studium kam, nur die Wenigsten kannten. Vor 8 Jahren, als die Stadt von russischen Separatisten besetzt wurde, erlangte sie eine traurige Berühmtheit.
Meine Mutter ist Jüdin. Mein Vater war halb Armenier, halb Ukrainer. Zu Hause sprachen wir nur Russisch, wie die meisten Familien im Osten des Landes. Durch die Nähe zu der russischen Grenze war diese Region der Ukraine mehr „russifiziert“ als andere Teile des Landes. Man fühlte sich in der Sowjetunion zu Hause. Mit der Ukraine hat man sich in der Ostukraine wenig identifiziert. Im Anschluss an den Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 erklärte Ukraine ihre Unabhängigkeit. Ich war 17 und gerade mit der 10. Klasse fertig. Ich erinnere mich, keine großen Emotionen empfunden zu haben – Ukraine, Russland, dachte ich zu dem Zeitpunkt, wo ist da der Unterschied. So ging es vielen damals.
Heute denke ich und Millionen Ukrainer ganz anders darüber. Mein Bewusstsein für die Ukraine als Land, das seinen eigenen Weg gehen will, begann sich erst 2004 herauszubilden: Mit der Orangenen Revolution, alsi viele Menschen friedlich gegen die Korruption und den Einfluss Russlands in dem Land protestierten.
Kurz zuvor war mein jüngerer Bruder, der in den Vereinigten Staaten Internationale Beziehungen studiert hat, in die Ukraine zurück. „Unerhört!“ – aus der Perspektive meiner Eltern. Denn sie wollten, dass ihre Kinder in Freiheit, Demokratie und weit von dem schweren Erbe der Sowjetunion, der Korruption und Unsicherheit leben. „Genau richtig!“– aus der Perspektive meines Bruders, denn er kam in die Ukraine nach seinem Studium in Boston zurück, um sich genau dafür einzusetzen.
Zusammen mit vielen anderen Gleichgesinnten hat mein Bruder daran mitgewirkt, dass die Ukraine sich in den letzten Jahren immer weiter von ihrer sowjetischen Vergangenheit emanzipiert hat und sich immer mehr der EU und dem Westen zugewandt hat. Das Land hat mittlerweile freie, demokratische Wahlen, eine stolze eigene kulturelle Identität, eine lebendige Kunstszene, weltberühmte Wissenschaftler, einen aktiven universitären Austausch mit der EU. Die Ukraine hat für sich den Weg in Richtung Europa gewählt.
Auf diesem Weg versuchen jedoch Russland und russlandfreundliche Politiker immer wieder, die Ukraine in ihre sowjetische Vergangenheit als russischer Satellitenstaat zurück zu zerren.
2014 kam es auf dem Maidan in Kyiv zu Protesten, nachdem die ukrainische Regierung sich aus den Gesprächen mit der EU zurückgezogen hatte und sich entgegen ihrem Wahlversprechen Russland unterwerfen wollte. Mehr als 100 Demonstranten verloren ihr Leben. Mein Bruder verbrachte jeden Tag der Proteste auf diesem Platz. Er hat jeden Tag sein Leben riskiert, um für das, woran er glaubt, einzustehen – die Freiheit, das Recht eines Landes auf Selbstbestimmung und die Demokratie. Zu dem Zeitpunkt waren meine Eltern noch in Donezk. Meine Mutter, eine Ärztin und Professorin für Humangenetik, ging zusammen mit vielen ihrer Kollegen und Freunde in Donezk ebenfalls auf die Straße – für die Einheit der Ukraine. Erst als sie anfing, Morddrohungen zu bekommen, und ihre Privatklinik für pränatale Diagnostik von den russischen Separatisten enteignet wurde, verließ sie zusammen mit meinem Vater ihre Heimatstadt. Sie bauten sich im Alter von über 60 Jahren ein neues Leben in Kyiv auf. Von wo meine Mutter jetzt erneut fliehen musste.
Meine Familie war schon immer kosmopolitisch, meine Großeltern sprachen Jiddisch zu Hause, meine Eltern Russisch, mein Großvater väterlicherseits Ukrainisch. Die Ehefrau meines Bruders ist Russin und hat einen russischen Pass, genauso wie die älteste Tochter, die in Russland geboren ist. Meine Schwägerin ist jetzt in der Ukraine geblieben und kämpft gegen die russische Invasion.
In diesem Krieg geht es nicht um Nationalitäten, und es geht im Wesentlichen auch nicht um Russen und Ukrainer. Es geht darum, in welchem Land die Bürger der Ukrainer – Russen, Ukrainer, Juden, Christen oder andere – leben wollen. In einem, wie Russland, in dem Diktatur herrscht, in dem den Einflusszonen mehr Bedeutung zugemessen wird als dem Wohlstand der eigenen Bürger, in dem Menschenleben nichts wert sind und in dem Andersdenkende verhaftet und umgebracht werden?
Oder in einem Land wie der Ukraine, einem der wenigen Länder der ehemaligen Sowjetunion, in dem demokratische Wahlen abgehalten werden, Oppositionspolitiker nicht um ihr Leben fürchten müssen, und in dem Menschen unbeirrt ihren Weg in die Freiheit und Demokratie, ihren Weg nach Europa gehen.
Mythen des Kremls
Mich macht es, muss ich gestehen, sehr, sehr wütend, wenn ich heute noch höre, wie viele Menschen den Lügen des Kremls glauben. Nicht nur in Russland, sondern auch im Westen, in Europa.
NATO-Bedrohung? Wie kann man ernsthaft diesem Kreml-Märchen Glauben schenken? Vor allem jetzt. Es ist nicht das Verteidigungsbündnis, sondern Russland, das die Ukraine angreift und der ganzen Welt droht. Die NATO ist nicht der Grund dieser abscheulichen Invasion – das Machtstreben und der Einflusswahn des Kremls sind es.
Nationalisten in der Ukraine? Noch so eine weitere Propaganda-Lüge, zu der ich selbst in den letzten Tagen so einige Fragen bekommen habe. „Ist es wahr, dass es Nazis in der Ukraine gibt?“ Putin, Freund von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten in ganz Europa, will jetzt also plötzlich die Ukraine „entnazifizieren“? Nationalisten gibt es in Deutschland, in Frankreich, in Polen, in den USA – die gibt es überall, auch in der Ukraine. Sie sind aber sehr weit davon entfernt, in der Mehrzahl oder gar in der Regierung zu sein. Allein schon Selenskyj als ein demokratisch gewählter Präsident mit stabiler Mehrheit und mit jüdischen Vorfahren ist ein Beweis dafür.
„Die Ukraine ist ein untrennbarer Teil unserer Geschichte.“ Noch so ein Mythos, mit dem Putin versucht, die Geschichte zu verdrehen. Untrennbarer Teil der Besatzungsgeschichte wäre richtig. Denn die Ukraine ist bereits im 17. Jahrhundert unter russische Zarenherrschaft geraten. Nach der Oktoberrevolution und der damit verbundenen Gründung der Sowjetunion wurde sie 1922 Teil der UdSSR. Anfang der 30er Jahre hat Stalin gezielt 3,5 Millionen Ukrainer in den Hungertod getrieben – ein Teil des Russifizierungsplans des Kremls. 2014 wurde die Krim annektiert und de facto auch die Heimatstädte meiner Eltern Donezk und Luhansk. Vierzehntausend Kriegstote und etwa zwei Millionen Binnenflüchtlinge sind der russischen Invasion von damals zuzurechnen. Und heute versucht der Kreml dieses Land, das Land meiner Familie, dem Erdboden gleichzumachen. Und spricht dabei von Brüdervölkern.
Treten Sie den russischen Lügen entgegen!
Viele Menschen fragen mich und meine Familie heute, wie man helfen kann: Das wäre ein Ansatzpunkt. Immer wenn Sie hören, dass jemand diesen Krieg relativiert oder Rechtfertigungen dafür sucht, treten Sie dem entgegen. Immer wenn jemand ansetzt mit „Aber die NATO…“ stellen Sie klar: Egal welche Fehler man dem Westen vorwerfen mag, aktuell ist es Russland und Russland allein, das der Aggressor ist.
Immer, wenn jemand fordert, man müsse Russland beschwichtigen und Putin einfach geben, was er will, dann zeigen Sie der Person auf: Wir, der Westen, Europa, haben nicht klar reagiert, als Russland 2014 die Krim annektierte, wir haben nicht die Stirn geboten, als russische Separatisten in der Ostukraine einfielen, und wir haben zugeschaut, während Putin hundert Tausende Soldaten an der Grenze zusammenscharte. Und diese Beschwichtigung hat dazu geführt, dass wir jetzt einen Angriffskrieg in Europa haben.
Die Zeilen einer ukrainischen Aktivistin, die sie vor einigen Tagen getwittert hat, gehen mir nicht aus dem Kopf. Sie schrieb: „Eight years of deep concerns later, there are tanks in my country.“ Jetzt ist Zeit, Russland entschlossen entgegenzutreten!
Ukraine und Europa
In den vergangenen zwei Wochen war ich unglaublich stolz auf mein ukrainisches Erbe.
Wie viele von Ihnen bin ich beeindruckt von dem Widerstand des ukrainischen Volkes gegen eine der größten Armeen der Welt. Ich bin sicher, viele von Ihnen haben diese Bilder gesehen: Von Tausenden jungen Frauen, die in der Ukrainischen Armee kämpfen, so alt wie mein älterer Sohn, so alt wie Ihre Töchter. Die Bilder, auf denen unbewaffnete Ukrainer die russischen Militärfahrzeuge stoppen.
Wir alle dachten, dass es auf die Größe einer Armee ankommt. In nur wenigen Tagen haben wir gelernt, dass es vor allem auf die Entschlossenheit ankommt, die eigene Zukunft zu bestimmen. Heute erleben wir, wie die Ukrainer nicht nur ihr Land, ihre Heimat, ihre Häuser und ihre Kinder verteidigen. Sie verteidigen ihre Rechte, ihre Freiheit, sie verteidigen die Idee von Selbstbestimmung, auf der Europa aufgebaut ist. Die Ukrainer sterben heute für den Schutz von Werten, die wir zulange für selbstverständlich gehalten haben.
Dies ist ein Krieg, der nicht um Religion, Territorium oder Ressourcen geführt wird, sondern um das Grundrecht eines jeden Menschen, frei zu sein. Es ist heute das tapfere ukrainische Volk, das jeden Europäer an den hohen Preis der Freiheit erinnert. Es ist das tapfere ukrainische Volk, das uns alle daran erinnert, wie viel wir verlieren können, wenn wir nicht bereit sind, europäische Werte zu verteidigen, nicht nur von ihnen zu reden.
Was Ukrainer jetzt brauchen, sind keine „deep concerns“. Sie brauchen tatkräftige Hilfe, den Krieg zu stoppen, ihr Land zu retten und unsere europäischen Werte zu verteidigen. Und sie brauchen unsere Bereitschaft, die Ukraine in der EU aufzunehmen. Ukraine hat sich den Vertrauensvorschuss von Europa verdient, mit Blut und Tränen, mit Tausenden von Opfern.
Danke für Ihre Solidarität und Ihre tatkräftige Unterstützung, diesen Krieg zu stoppen!
Dr. Tatjana Belgorodski, Frankfurt am Main
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