Am 01.Dezember 2021 fand unser letzter Youropean Salon zum Thema „Rechtsstreit Polen-EU – politisch-kultureller Hintergrund“ statt. Unsere Referentin Anna Leszczynska-Koenen gab in kleiner Runde bei unseren Gastgebern Irina und Klaus Mössle einen fundierten Einblick.
Polen auf dem Weg in den Polexit?
von Anna Leszczynska
Im August dieses Jahres fuhr mein Taxi auf dem Weg zum Warschauer Flughafen am Grab des unbekannten Soldaten vorbei, an dem immer eine militärische Ehren-wache steht. An dem Tag schien aber eine ganze Militärkompanie auf dem Platz zu sein, und so fragte ich den Taxifahrer, was das bedeute, weil ja kein besonderer nationaler Feiertag oder Gedenktag war. „Ach wissen Sie,“ erwiderte der Taxifahrer, „wenn unser Führer das wünscht, dann ist jeder Tag ein patriotischer Gedenktag.“ Damit war alles klar zwischen uns, und wir verbrachten den Rest der Fahrt damit, Wut und Witze über diese entsetzliche Regierung zu teilen. Das fühlte sich sehr vertraut an – in der kommunistischen Zeit waren Taxis so etwas wie Stimmungsbarometer der Warschauer Gegenöffentlichkeit und Orte, an denen man sich seine Frustration über die politischen Verhältnisse von der Seele reden konnte. Aber jetzt, im demokratischen Polen, über dreißig Jahre nach der Wende? Wie konnte es so weit kommen, ausgerechnet in diesem Land, das wie kein anderes im ehemaligen Sowjetblock mit regelmäßigen Massenprotesten die Parteidiktatur herausforderte, um ihr schließlich im August 1980 mit der Solidarność weitgehende Freiheitsspielräume innerhalb der weiterexistierenden Parteiherrschaft und der noch unveränderten „geo-politischen Lage“ abzutrotzen?
Abb. 1 Anna Leszczynska-Koenen Foto: youropean
Auch wenn jener Karneval der Freiheit zunächst mit der Zerschlagung der Solidarność im Dezember 1981 und der Einführung des Kriegsrechts endete, so hat er nachträglich betrachtet zweifelsohne die entscheidenden Lockerungen im Gemäuer des Systems bewirkt, die schließlich 1989 in ganz Mittel- und Osteuropa zu seinem Einsturz führten. Die düsteren Jahre zwischen 1982 und 1989, in denen die Freiheit, die man gekostet hatte, wieder in scheinbar unerreichbare Weite rückte und ringsum nur Stagnation und Verfall herrschten, haben es den Aktivisten der Solidarność-Zeit ermöglicht, sich als eine politische Elite im Wartestand zu konsolidieren und zu professionalisieren. Kein anderes osteuropäisches Land verfügte zum Zeitpunkt der Wende über so zahlreiches und politisch erfahrenes oppositionelles Personal. Nach-dem Tadeusz Mazowiecki die Führung der ersten, nichtkommunistischen Regierung übernommen hatte, gelang es dieser Elite schnell und relativ reibungslos die Rahmenbedingungen eines demokratischen Staatswesens zu schaffen – Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Gewaltenteilung sowie eine Transformation der Wirtschaft, die eine Entwicklung des Marktes ermöglichte. Auch wenn das Solidarność-Lager in sich heftig bekämpfende Fraktionen zerfiel und die Verwerfungen der Transformation bald eine Nostalgie nach den alten Zeiten aufkommen ließen, die die Postkommunisten an die Macht brachte, so blieben die Pfeiler der Rechtssaatlichkeit wie auch der Einbettung des Landes in verlässliche internationale Verträge bis zu Machtübernahme durch die PiS 2015 unangetastet.
Einen Vorgeschmack auf die politische Agenda der PiS-Partei und ihres Anführers Jaroslaw Kaczyński (damals noch Hand in Hand mit dem das Präsidentenamt bekleidenden Zwilling Lech Kaczyński) konnte man bereits 2005-2007 gewinnen, als Kaczyński das erste Mal nach der Macht griff. Die Errungenschaften der Demokratie wurden raunend als „korruptes System“ diffamiert, in dem nicht „lustrierte“, d.h. nicht entkommunisierte Seilschaften ihr korruptes Unwesen trieben. In den Schulen sollten Uniformen und patriotische Erziehung eingeführt werden, mit entsprechender Überarbeitung der Lektürelisten. Und auch damals wurde das Wahlvolk von Pater Rydzyks „Radio Maria“ mit antiwestlichen, rückständigen und antisemitischen Inhalten gefüttert und dazu angehalten, den christlichen Werten der Regierenden die Treue zu halten. Diese Symbiose zwischen Kirche und Thron hat sich ab 2015 zu einem umfassenden System gegenseitiger korruptiver Abhängigkeiten ausgewachsen.
Dem ersten Anlauf zur Machteroberung machte das Zerbrechen der instabilen Regierungskoalition ein Ende, die Kaczyński mit zwei kleinen rechten Gruppierungen eingegangen war, um nicht mit einem starken Partner wie der PO von Donald Tusk koalieren zu müssen. In den vorgezogenen Neuwahlen 2007 erlitt er eine krachende Niederlage mit 10% Rückstand zu Donald Tusk. Das war durchaus überraschend und wurde von der liberal-demokratischen Öffentlichkeit mit Erleichterung aufgenommen, denn kurz vorher sah es nach einem Kopf-an-Kopf Rennen aus. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf dieses Ergebnis hatte einer Fernsehdebatte zwischen Tusk und Kaczyński zwei Wochen vor der Wahl. Bei der Debatte erlebte das Publikum einen streitbaren, eloquenten, witzigen und mit großem männlichen Charme ausgestatteten Tusk, dem gegenüber Kaczyński mit seiner infantilen, ständig beleidigten und beleidigenden Art eine jämmerliche Figur machte. Dieses Fiasko hat Kaczyński Tusk nie verziehen, und er wird alles tun, um es nicht noch einmal zu er-leben. Ein weiterer wichtiger Faktor war die große Mobilisierung der Altersgruppe zwischen 18 und 24, der – aufgewachsen in einem demokratischen Polen – jede christlich-patriotische Einmischung in ihre Lebensweise zuwider war. Dies gab damals so viel Anlass zum Optimismus, dass ich mich in einem Kommentar des Wahlergebnisses zu der Aussage verstiegen habe: „Wie auch immer die Fortune der Regierung Tusk ausfallen wird – um die weitere Zukunft von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen muss man sich keine Sorgen mehr machen, … weil das Land eine Lektion in Demokratie gelernt hat und politisch reifer geworden ist.“
Eine peinliche Fehleinschätzung nicht nur der Situation in Polen sondern auch generell der Stabilität von Demokratien, wie wir inzwischen auch am Beispiel der USA lernen mussten. Bei den Wahlen 2011 lag die PiS nach wie vor 10% zurück, doch 2015 sah die Situation völlig anders aus. Die PiS lag fast 13% vor der PO und konnte aufgrund der Besonderheiten des polnischen Wahlrechts mit absoluter Mehrheit alleine regieren. Niederschmetternd für die PO war dabei, dass sich viele ihrer Stammwähler von ihr abgewandt hatten – die PiS erreichte auch in den Städten, unter den Ge-bildeten und unter der Jugend die Mehrheit. Die 2007 so hoffnungsvoll von mir beschriebene Jugend stimmte in großer Zahl für den abgewrackten Rockmusiker Kukiz, der sein Herz für „Ehre, Gott und Vaterland“ entdeckt hatte. Da im Mai 2015 Andrzej Duda, ein Mann ohne Eigenschaften und eine politische Erfindung Kaczyńskis, es schaffte, gegen den Amtsinhaber Komorowski die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, verfügte die PiS über eine Machtfülle, die es ihr ermöglichte, ihre Angriffe auf die unabhängige Justiz und auf den sonstigen demokratischen Comment durchs Parlament zu peitschen, ohne ein Veto des stets gefügigen Präsidenten befürchten zu müssen.
Abb. 2 Klaus Mössle und Anna Leszczynska-Koenen Foto: youropean
Was war in den beiden Amtszeiten der PO-Regierung geschehen, dass die PiS der-maßen triumphieren konnte? Sie hatte zwar nicht alle ihre Intentionen im Wahlkampf offen gelegt, aber aus ihrer Verachtung für die Errungenschaften der polnischen Demokratie hatte sie ja bereits in den Jahren 2005-2007 keinen Hehl gemacht. Auch im Wahlkampf 2015 wurde die III Republik – also das nach 1989 seine Souveränität wiedererlangte, demokratische Polen – als korruptes, von „lügnerischen Eliten“ und kommunistischen Seilschaften getragenes „System“ geschmäht, die offensichtlichen Erfolge der Regierung geleugnet, stattdessen wurde die Vision eines Polen beschworen, das in „Trümmern liege“ und eine Halbkolonie von Deutschlands sei, zumal der Großvater von Tusk in der Wehrmacht gedient habe. (Tusk kommt aus einer kaschubischen Familie, und die Nazis haben die Kaschuben als eindeutschungsfähig behandelt und sie zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen.) Man konnte also schon wissen, welch Geistes Kind die PiS ist, als man 2015 für sie stimmte.
Zunächst Mal ist es nichts Ungewöhnliches in einer Demokratie, wenn die Wähler nach acht Jahren Amtszeit einer Regierung in Wechselstimmung geraten und nach Alternativen suchen. Die Frage ist, welche Faktoren zu der Wechselstimmung führten, und auf welche Weise ausgerechnet die PiS sich als Alternative positionieren konnte. Viele Analysen kreisten um die von der PO vernachlässigten sozialen Fragen – Diskussionen über die „Abgehängten“, die „Transformationsverlierer“ etc. spielten auch in Polen eine Rolle. Die PO hat dieser Kritik immer entgegengehalten, dass Polen in der Zeit ihrer Regierung einen „zivilisatorischen Sprung“ nach vorne gemacht habe. Und tatsächlich hat die polnische Wirtschaft die Finanzkrise gut überstanden und die EU-Gelder sind der Entwicklung des Landes zugutegekommen, ohne, wie z.B. in Ungarn, in korrupte Kanäle zu fließen. Eine das Wirtschaftsleben und die Verwaltung zersetzende Korruption oder eine Oligarchisierung der Wirtschaft wie in vielen postkommunistischen Ländern gab es in Polen nicht, rechtsstaatliche Normen wurden befolgt, so dass man insgesamt von einer „good governance“ seit 1989 sprechen kann, die unter der jetzigen Regierung allerdings zunehmend in einem System von Partei-Nepotismus einbricht. Maciej Gdula, ein linker Soziologe, der den mindset der PiS-Wähler 2015 in einer mehrheitlich PiS wählenden Gemeinde unter-suchte, stimmt in seiner Analyse der Einschätzung eines großen ökonomischen Fort-schritts unter der PO-Regierung weitgehend zu. Die zehn Jahre seit dem Eintritt Polens in die EU zwischen 2005 und der Wahl 2015 seien Jahre des Wirtschaftswachstums gewesen, von dem die Gesellschaft breit profitiert habe. Die Arbeitslosigkeit sei gesunken, die Reallöhne seien gestiegen und die Kluft zwischen Arm und Reich habe sich erheblich geschlossen. Insofern seien die sozialen Versprechungen der PiS im Wahlkampf 2015, wie die Einführung eines großzügigen Kindergeldes oder die Erhöhung der Reallöhne, die übrigens nach dem Wahlsieg auch umgesetzt wurden, als eine überfällige Umverteilung empfunden worden, die sich das Land inzwischen leis-ten könne, und die von der vorherigen Regierung in ihrer Austeritätspolitik verhindert wurde.
Diese Situation hätte nach einer starken sozialdemokratischen Alternative verlangt, die in Polen aber vollständig fehlt. Der polnische Kulturphilosoph Andrzej Leder sieht als Ursache dafür die spezifische Dynamik des Kampfes gegen die kommunistische Diktatur, in der linke Anliegen untergingen: Die Priorität der Bürgerrechte ließ die Frage von sozialer Gerechtigkeit in den Hintergrund geraten, obwohl eine mächtige Arbeiterbewegung den Ausgangspunkt für diesen erfolgreichen Kampf bildete. Der damals als notwendig erachtete Kompromiss mit der Kirche habe zu einer Schwächung linker Laizität geführt. Und die Frage der nationalen Souveränität, die angesichts des brüderlichen Würgegriffs der Sowjetunion eine zentrale Rolle spielte, schrieb sich ein in eine Tradition, in der das Unrecht stets vom Außenfeind, vom Fremden und Besatzer ausgeht und nicht vom sozialen Ausbeuter, wodurch Solidarität sich eher auf die eigene ethnische Gruppe richtet als universell auf die Entrechte-ten. Zudem war links konnotiertes Denken durch die Jahre kommunistischer Diktatur kompromittiert. Darin sieht Leder die Ursache dafür, dass es der nationalistischen Rechten leicht gelingen konnte, Unzufriedenheit und soziale Empörung zu bewirtschaften.
Um ihre Legitimität zu sichern, muss die PiS diese Tradition durch die fortlaufende Konstruktion innerer und äußerer Feinde weiter anheizen. Im Inneren wimmelt es von Verrätern, von Polen „der schlechteren Sorte“, von totalitären „LBGT-Ideologen“, die polnische Werte zerstören wollen und natürlich von Juden, auch wenn dies nie explizit von der Regierung artikuliert wird. Dafür hat man die neofaschistischen Jungs, die man aufpäppelt, und das Medienimperium von Pater Rydzyk, in dem permanent über die jüdische Frage bramarbasiert wird. Offiziell hat man nichts gegen die Juden, ihre Geschichte soll aber bitte nicht das heroische Selbstbild der eigenen Nation stören. Jede Äußerung, jegliche Forschung, die die bittere Wahrheit über die mörderischen Gefahren beleuchtet, welche für Juden während der deutschen Besatzung von ihren polnischen Mitbürgern ausgingen, wird als Angriff auf die nationale Würde betrachtet und mit Sanktionen, Entzug von Forschungsgeldern und Förderungen belegt.
Der sich zuspitzende Konflikt mit der EU um die Rechtsstaatlichkeit und die von Lukaschenko herbeigeführten Krise an der Grenze zu Belaruss liefern auch willkommene Außenfeinde für eine immer maßloser werdende Rhetorik – Brüsseler Besatzung, dritter Weltkrieg gegen Polen, Angriff auf die polnische Souveränität etc. Sorge bereitet vielen Beobachtern, dass Polen, dessen Stimme einst in der EU und in der Welt zählte, sich immer mehr in eine außenpolitische Isolation begibt, und damit auch seine Sicherheit aufs Spiel setzt. Neben den angespannten Beziehungen zu der EU haben auch die Beziehungen zu den USA gelitten, seit die PiS 2018 ein Gesetz verabschiedet, das es unter Strafe stellen sollte, „Verbrechen der Nazis dem polnischen Volk zuzurechnen“ – ein Gesetz, das offensichtlich gegen Forschung über polnische Kollaboration beim Holocaust gerichtet war. Die Strafandrohung wurde zwar zurückgenommen, doch der diplomatische Schaden, auch in den Beziehungen zu Israel, war immens. Weitere Spannungen mit den USA entstanden, als die PiS dieses Jahr versuchte, den unabhängigen Fernsehsender TVN unter Kontrolle zu bekommen, an dem der amerikanische Channel Discovery zu einem erheblichen Teil beteiligt ist. Hier ging es um einen Angriff auf einen großen amerikanischen Investor, worüber die Amerikaner ihr Missfallen unmissverständlich äußerten.
Abb. 3 Salon in kleiner Runde Foto: youropean
Die inzwischen zum politischen Alltag in Polen gehörende Vergiftung des politischen Klimas mit Hass und Diffamierung und ihre relative Wirksamkeit ist meines Erachtens aber ohne die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und ihre Instrumentalisierung durch Kaczyński und die PiS nicht zu verstehen. Zur Erinnerung: am 10. April 2010 stürzte im dichten Nebel über dem Flughafen von Smolensk eine Maschine mit dem Präsidenten Lech Kaczyński, dem Zwillingsbruder von Jaroslaw, und 95 anderen ho-hen Vertretern von Politik und Militär ab. Sie waren unterwegs zu den Gedenkfeiern für die von den Sowjets in Katyn und Starobielsk 1940 ermordeten polnischen Offizieren. Einen Tag davor hatte bereits Tusk an einer Gedenkfeier teilgenommen, da aber diese „Kohabitation“ zwischen Tusk und Kaczyński sich schwierig gestaltete, war keine gemeinsame Delegation zustande gekommen. Jetzt ging es darum, die politische Bedeutung des Präsidenten gegenüber dem Premierminister Tusk heraus-zustellen, was vermutlich zu einem politischen Druck geführt hat, der den Piloten veranlasste, trotz katastrophaler Wetterverhältnisse einen Landeversuch zu machen. Sehr bald mischten sich in die allgemeine Trauer Misstöne, als deutlich wurde, dass Jaroslaw Kaczyński und seine Leute das Unglück für ihre politischen Zwecke verein-nahmen. Der verunglückte Bruder wurde zunehmend zum verratenen, gefallenen oder gar ermordeten Märtyrer für die polnische Sache stilisiert. Der so geschaffene Mythos vom Präsidentenmärtyerer wurde eingebettet in immer wahnwitziger wer-dende Verschwörungstheorien, die sich einen Dreck scherten um die Untersuchungsergebnisse der Expertenkommission, welche eindeutig von menschlichem Versagen ausging. Es wurde von Sprengstoff, künstlichem Nebel, einer „thermobarischen Bombe“ konfabuliert und die Anhängerschaft in monatlichen Kundgebungen auf diese „Wahrheitssuche“ eingeschworen.
Es hatte zunächst den Anschein, als würde diese Strategie nicht aufgehen, denn 2010 gewann der Liberale Bronislaw Komorowski die Präsidentschaftswahlen gegen Jaroslaw Kaczyński, und bei den Parlamentswahlen 2011 konnte Tusk sich nochmal durchsetzen. Aber die „alternativen Fakten“, für die Kaczyński lange vor Trump hätte ein Patent anmelden können, die pausenlos, und zwar nicht am lunatic fringe sondern im Zentrum des politischen Geschehens in den öffentlichen Raum einsickerten, unterminierten jede sinnvolle politische Diskussion – mehr noch, den Sinn von Sprache überhaupt. Nach Jahren, in denen politische Debatten um den Verstand beleidigende Behauptungen kreisten, war die polnische Öffentlichkeit mental gewissermaßen für den Wahlsieg der PiS sturmreif geschossen. Die aufgeheizte Atmosphäre erschwerte das Denken und das Argumentieren, und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch – nicht im Sinn eines metaphysischen Wahrheitsbegriffs, sondern als Unterscheidung zwischen Wahn und Realität – wurden immer mehr verwischt.
So war der Grund vorbereitet für den new speak, mit dem die Regierung nach dem Wahlsieg die Aushöhlung der unabhängigen Justiz, die schließlich zum EuGh-Urteil geführt hat, oder die Verwandlung der öffentlichen Medien in einen Propagandasender der Regierung zu einem Einsatz für die Rettung des Landes aus den Fängen der alten, korrupten Eliten darstellen konnte. In dieser als „Wende zum Guten“ titulierten Politik, die nach dem Motto fair is foul and foul is fair funktionierte, erfolgte auch blitzschnell, wo nur irgendwie möglich, die Übernahme der Kontrolle über alle auf staatliche Finanzierung angewiesenen kulturellen Institutionen. Beliebte Redakteure in Fernsehen und Rundfunk mussten gehen, angesehene und kompetente Direktoren von Kulturinstituten und Theatern werden durch mediokre Parteianhänger ausge-tauscht. So musste zum Beispiel die Direktorin des polnischen Kulturinstituts in Berlin gehen, weil sie einer „Kultur der Scham“ Vorschub geleistet habe – gemeint ist damit das Zeigen des preisgekrönten Films Ida, der ein bedrückendes Licht auf das Verhältnis ethnischer Polen zu ihren jüdischen Mitbürgern unter der Naziokkupation wirft. Der Direktor des im Laufe vieler Jahre und in Zusammenarbeit mit den angesehensten internationalen Historikern konzipierten Museums des 2. Weltkriegs in Danzig musste gehen, weil sein Ausstellungskonzept die „adelnden Aspekte des Kampfes“ zu wenig berücksichtigt habe und der polnischen Martyrologien im 2. Weltkrieg nicht genügend Platz einräumte. Der Vertrag des international renommierten Direktors des großartigen Museums der Geschichte der Polnischen Juden „Polin“ in Warschau wurde nicht verlängert, weil er es 2018 zugelassen hatte, dass in einer Ausstellung über die antisemitische Kampagne von 1968 die damalige antisemitische Rhetorik mit Aussagen heutiger rechter Politiker verglichen wurde. Die Liste kann man fortsetzen.
Das alles spielte sich nicht ohne Protest ab. Es gibt eine Opposition, es gibt eine unabhängige Presse, es gibt den wichtigen unabhängigen Fernsehsender TVN. Und es gibt immer wieder große Massenproteste, wie z.B. gegen die Angriffe auf die unabhängigen Gerichte im Sommer 2017 oder gegen die geplante Verschärfung des so-wieso schon restriktiven Abtreibungsrechts im Herbst 2017. Nach den landesweiten Protesten von Frauen damals tat die PiS etwas, was sie angesichts von Kritik bis dahin nie getan hat – nämlich den Rückzug antreten. Der Gesetzesentwurf verschwand von der parlamentarischen Agenda. In dem ant-PiS Lager kam Hoffnung auf, dass man doch etwas bewirken könne gegen die Herrschaft dieses sinisteren Kobolds und seiner Mannschaft aus fanatischen Hassern und opportunistischen Ja-sagern. Als im Januar 2019 der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz, der ein bevorzugtes Objekt von Angriffen der PiS-nahen Medien gewesen war, bei der Abschlussveranstaltung der alljährlichen karitativen Weihnachtshilfe auf offener Bühne von einem verwirrten, aber durch Hasskampagnen der PiS inspirierten jungen Mann erstochen wurde, schien die Erschütterung nach dieser Tat das Ende der PiS-Regierung einzuläuten. Doch 2019 gewann sie nicht nur abermals die Parlamentswahlen, sondern der konturlose Duda gewann auch noch 2020 die Präsidentschaftswahlen gegen den jungen, charismatischen Bürgermeister von Warschau Trzaskowski. In der oppositionellen Öffentlichkeit machte sich Verzweiflung breit, denn es sah so aus, als könnten Kaczyński und seine Regierung jeden Skandal, jede Blamage und jeden Protest an sich abperlen lassen, ohne dass ihre Wählerschaft in nennenswerter Weise abschmelzen würde.
Rechnet man die Stimmen des ant-PiS Lagers bei der Wahl 2019 zusammen – also die Liberalen, die Linke und die Bauernpartei, so kommen sie auf mehr Stimmen als die PiS, ohne allerdings, außer in der Frage ihrer heftigen Opposition gegen die Regierung, koalitionsfähig zu sein. Die Zahlen zeigen, dass das Land nicht einfach von der PiS dominiert ist, sondern in etwa hälftig gespalten. Gespalten in dem Sinn, dass es sich hier nicht um unterschiedliche Richtungen in einem als gemeinsam empfundenen politischen Rahmen handelt, sondern um eine Kluft, über die kaum Verständigungsbrücken möglich sind. Familien und Freundeskreise zerbrechen an ihr, man lebt zunehmend in unterschiedlichen Welten. Das resultiert auch daraus, dass die PiS-Regierung ihre Wähler mit dem „Volk“ gleichsetzt und sich so gut wie nie an alle Bürger über die politischen Grenzen hinweg wendet. Soviel auch von Polen und vom Patriotismus die Rede ist, so wird in den Reaktionen auf jeglichen Protest deutlich, dass alle politischen Gegner außerhalb dieses Polens gestellt werden, das man für sich beansprucht. Das betrifft nicht nur den Umgang mit der Opposition im Parlament, der man keine Zeit lässt, Gesetzesnovellierierungen zu prüfen, und stattdessen eigene Projekte, wenn nötig, in nächtlichen Sitzungen durchpeitscht. Es betrifft auch alle gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Anliegen im öffentlichen Protest vorbringen – Eltern von behinderten Kindern, Krankenschwestern, Lehrer, Assistenzärzte, oder eben die Frauen, die gebären sollen, auch wenn der Embryo nicht lebensfähig ist. Es gibt nie einen Schritt auf die Protestierenden zu, keinen Versuch zu verhandeln. Die Kontrolle über die öffentlichen Medien ermöglicht es der Regierung wie in kommunistischen Zeiten jeden Protest als irregeleitet, oder von feindlichen Kräften gesteuert zu desavouieren. Der unabhängige Sender TVN kann gerade in den ländlichen Regionen im Osten, die eine Hochburg der PiS bilden, nicht empfangen wer-den, sodass die Menschen dort alternativlos den Regierungsmedien ausgesetzt sind.
Die Hoffnung auf eine Bereitschaft zum Kompromiss, die aufkam, als das Projekt eines verschärften Abtreibungsverbots 2017 zurückgenommen wurde, zerschlug sich endgültig, als im November letzten Jahres das von der PiS kontrollierte Verfassungsgericht unter dem Vorsitz von Julia Przylebska, einer Vertrauten Kaczyńskis, Abtreibung aufgrund von embroynaler Mißbildungen für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklärte. Es folgten die größten Massenproteste, die es seit der Regierungsübernahme durch die PiS gegeben hat. Sie schwappten aus den Städten in die Provinz und breiteten sich über alle Generationen aus. Auffallend viele junge Menschen, die sich bei der Verteidigung der Gerichte nicht besonders engagiert hatten, waren jetzt auf der Straße – laut und frech. Zum ersten Mal zeigten Meinungsumfragen für die PiS deutliche Verluste in der Wählergunst. Als das Verfassungsgericht im Herbst dieses Jahres urteilte, dass polnisches Recht über dem EU-Recht stehe, und deswegen die Beschlüsse des EuGh bezüglich der polnischen Gerichtsbarkeit nicht bindend seien, schien sich dieser Trend in den Umfragen fortzusetzen, denn Angst machte sich breit, dass Polen durch die PiS Politik aus der EU rausfallen könnte. Die Zustimmung zur EU hat in Polen ganz handfeste und für jeden spürbare materielle Gründe. Die Landwirte profitieren enorm von den EU-Geldern, die Arbeitsmigration innerhalb der EU ist für viele Polen die Grundlage ihres materiellen Wohlstands, die ökonomischen Verflechtungen mit der EU sind für die polnische Wirtschaft unverzichtbar. Und selbst die Krise an der belarussischen Grenze, die – begleitet von patriotischem Getöse – zunächst innenpolitisch der PiS in die Karten spielte, hat die Bedeutung der EU für Polen vielen bewusster gemacht, da es letztlich die EU ist, welche die Instrumente besitzt, den Migrationsdruck auf die östliche Grenze abzuwenden. Das anti-PiS Lager hat wieder Hoffnung geschöpft, dass der Zusammenstoß der PiS mit so handfesten Interessen der Bevölkerung bei den Wahlen 2023 zu ihrer Abwahl führen könnte. Dass die PiS angesichts drohenden Machtverlusts die Wahlen manipulieren könnte, fürchten zwar viele, glauben es aber letztlich dann doch nicht, denn der Weg Richtung eines Systems Putin, den die PiS bereits zurückgelegt hat, ist so weit noch nicht fortgeschritten.
Abb. 4 Gebannte Zuschauer Foto: youropean
Meinen Ausführungen konnten Sie entnehmen, dass ich Kaczyński und seine Partei nicht in derselben Weise betrachte, wie sonst politische Parteien im demokratischen Spektrum, mögen sie meinen politischen Neigungen entsprechen oder nicht, sondern sie als eine große Bedrohung für die Demokratie sehe. So komme ich auf meine Anfangsfrage zurück – wie konnte das passieren ausgerechnet in Polen, in dem der Kampf um Demokratie so stark war wie in keinem anderen Land des ehemaligen Sowjetblocks? Und diese Frage stellt sich in Bezug auf den Wahlsieg 2019 noch dringlicher, als es da nicht mehr um die sozialen Umverteilungspläne ging, die 2015 noch eine große Rolle gespielt hatten, und man sich über die antidemokratischen Intentionen der PiS keine Illusionen mehr machen konnte.
Ich kann diese Frage natürlich nicht beantworten, mir nur einige Gedanken machen, von denen manche nach spezifischen Faktoren in Polen fragen, und andere die all-gemeine Dynamik populistischer Herrschaft betreffen. Da ist zum einen die katholische Kirche in Polen, deren Rückständigkeit und Feindschaft gegenüber der Moder-ne nicht vergleichbar ist mit dem, was man im Westen als Kirche kennt. Dazu kommt ein irgendwie familiär-kindliches Verhältnis von vielen Gläubigen zu ihrer Kirche, deren Anhänglichkeit durch Pädophilie- und Korruptionsskandale nicht in dem erwart-baren Maße Schaden nimmt. Eine Rolle spielt auch das Fehlen durchschlagend populärer Führungsfiguren in der Opposition wie auch ihre Uneinigkeit. Tusk hofft mit seiner Rückkehr in die polnische Politik diesen Mangel beheben zu können. Doch unabhängig von der Qualität der Oppositionspolitiker, lässt sich hier ein Mechanismus beobachten, den man in Zusammenhang mit populistischen Parteien generell feststellen kann: Die kleinste Inkorrektheit schadet jenen enorm, während sie an den populistischen Politikern abperlt und die Loyalität ihrer Wähler nicht zu tangieren scheint – in Polen spricht man deshalb vom „eisernen Elektorat“ der PiS.
Das verweist auf ein spezielles Verhältnis zwischen diesen Politikern und ihren Anhängern, das Maciej Gdula in seiner soziologischen Untersuchung der PiS-Wähler zu beleuchten versuchte. Gdula meint, dass bei einem Teil dieses eisernen Elektorats, Abstiegsängste und Rückschläge projektiv verarbeitet werden. Die Betreffenden se-hen sich als Opfer einer Welt, die gegen sie ist, und die ihre berechtigten Ansprüche nicht erfüllt. Hier greife die von Kaczyński angebotene Weltsicht besonders gut, denn sie bestätigt das Selbstgefühl, Opfer dunkler Mächte und korrupter Eliten zu sein. Gerade die Maßnahmen, die die Verfassung aushebeln oder sonst Kaczyńskis Macht festigen, werden laut Gdula als besonders attraktiv erlebt, weil die Anhängerschaft durch sie stellvertretend die Befriedigung ihrer eigenen Rache- und Neidimpulse erlebe. Identifikatorisch werde den Anhängern so ein Gefühl von Macht und Selbstwirksamkeit vermittelt, auch wenn sie ihren realen Einfluss als Bürger verlieren. Die destruktive Gemeinschaftsbildung, die auf diese Weise stattfindet, schaffe einen so starken Sog, dass eigene, zum Teil positive Erfahrungen in dem „Scheißsystem“ nicht ins Gewicht fallen. Das ist ein Punkt, der für aufgeklärte Demokraten so schwer zu akzeptieren ist: die Affektaufladung dieser Prozesse ist nicht linear aus objektiven Erfahrungen ableitbar. Reale eigene Erfahrungen und Interessen verlieren tendenziell an Gewicht, denn ihre Verarbeitung wird der Teilhabe an dem gemeinschaftlichen politischen Drama untergeordnet, das von diesen politischen Führern entfacht wird.
Diese düsteren Überlegungen möchte ich mit eine Satz von Adorno aus dem Jahr 1944 über faschistische Propaganda schließen: „Es ist eine Illusion anzunehmen, das sogenannte einfache Volk habe eine unertrügliche Witterung für das Echte und Aufrichtige und verachte Fälschungen. Hitler war nicht trotz, sondern wegen seiner billigen Possen beliebt, wegen seiner falschen Töne und seiner Clownerien, die als solche goutiert wurden.“