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4. Mai 2020

Deutschlands Verantwortung für Europa

Stärkung der Architektur des „europäischen Hauses“ statt Scheinsolidarität

Photo: Matthias Willvonseder

Die Diskussion in den EU-Mitgliedstaaten zur Corona-Krise in den „südlichen“ EU-Mitgliedstaaten, vorneweg bei unsern italienischen Freunden, weckt nicht zuletzt in Deutschland Schuldgefühle. Profitieren nicht wir Deutschen am meisten von dem Wirtschaftsraum EU und von der Gemeinschaftswährung Euro? Ist es nicht Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg unsägliches Leid und wirtschaftliche Verwüstung über Europa brachte? Und haben nicht diejenigen Politiker und Medien recht, die von Deutschland immer in der Krise eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für einen krisengeschüttelten EU-Mitgliedstaat fordern? Hat Deutschland 2012 in der griechischen Euro-Krise alles falsch gemacht, und sollte es daher 2020 in der italienischen Corona-Krise mehr Solidarität aufbieten?

Unsere Europa-Hymne mit Beethovens grandioser Vertonung von Schillers Ode an die Freude verliert sich nicht im Klein-Klein: ist doch der großartige Satz „Alle Menschen werden Brüder“ lediglich eine Variation des Mottos der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“! Wenn dieser idealistische Schwung des 18. Jahrhunderts 200 Jahre später unsere heutige Sehnsucht nach Sicherheit und Gerechtigkeit inspiriert, liegt es doch fast auf der Hand, was Deutschlands Verantwortung für Europa gerade in Krisenzeiten ausmacht: nämlich dass das EU-Land mit der größten Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung den anderen Mitgliedstaaten finanzielle Zuschüsse garantiert, als Corona-Bonds oder Eurobonds begrifflich verbrämt.


Photo: Frederic Köberl on Unsplash

Es wäre für die EU fatal, wenn maßgebliche politische Meinungsträger in diese Richtung umschwenken würden. Deutschlands Verantwortung für Europa liegt nicht darin, Solidaritätsapellen nachzugeben, die von politischer Taktik und Machtinteressen geprägt, medial verstärkt und schließlich auch von „wissenschaftlicher“ Seite abgesegnet werden. Diese vermeintlich unsolidarische Haltung ist nicht allein wegen der doppelten Gefahr von Anmaßung und Überforderung berechtigt; Deutschland ist nämlich wirtschaftlich und demographisch im Verhältnis zur EU nicht bedeutender als das Bundesland Nordrhein-Westfalen zu Deutschland. Die hier an die deutsche Politik gerichtete Mahnung, die ablehnende Haltung gegenüber Eurobonds auch in der Corona-Krise beizubehalten, gründet auch nicht etwa in schwäbischer Sparsamkeit, mangelnder Solidarität oder gar Hartherzigkeit gegenüber unseren EU-Mitbürgern. Sie beruht vielmehr auf der Überzeugung, daß solche Gesten einer Scheinsolidarität alles andere als nachhaltig sind und im Gegenteil die Statik des europäischen Einigungsprojekts gefährden würden.

Die Gründe können hier nur skizziert werden: Eurobonds oder Corona-Bonds, d.h. am Kapitalmarkt aufgenommene Kredite, für die alle Euro-Mitgliedstaaten als Gesamtschuldner haften, würden die Zinsen für ein Land wie z.B. Italien wegen der Mithaftung insbesondere Deutschlands verbilligen. Dieser eigentlich positive Effekt einer für Italien niedrigeren Zinslast hätte allerdings – nicht anders als im Beispiel Griechenlands nach der Euro-Einführung – die Tendenz, die Kreditaufnahme und damit die Staatschulden Italiens signifikant zu erhöhen und das Land finanziell zu überfordern. Zwar könnten die Anleihegläubiger, welche die Corona-Bonds im Depot haben, Zinsen und Kapital für den Italien zugeflossenen Kreditbetrag auch direkt von Deutschland (und allen anderen Gesamtschuldnern) einfordern. Deutschland würde jedoch dann im Innenverhältnis den bezahlten Betrag vom Gesamtschuldner Italien zurückfordern. Es braucht nicht viel Phantasie, um vorherzusehen, daß das Konfliktpotenzial in diesem Fall viel problematischer wäre als die aktuelle Solidaritätsdebatte in der Corona-Krise und politisch deutlich explosiver als selbst die Griechenlandkrise vor knapp zehn Jahren, als in Athen Hakenkreuz-Plakate auftauchten.


Photo: Christian Wiediger on Unsplash

Die Verantwortung Deutschlands kann nicht darin bestehen, sich zu solchen Gesten einer Scheinsolidarität drängen zu lassen, die in der Sache kontraproduktiv und für das europäische Projekt das Gegenteil von nachhaltig sind. Die eigentliche Verantwortung Deutschlands für Europa und speziell für die EU besteht darin, den Dialog über eine nachhaltige Architektur des europäischen Hauses neu zu beleben und gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn respektvoll, aber mit Herzblut und für die Bürger transparent zu führen. Dabei erscheinen mir die im folgenden skizzierten Punkte als besonders wichtig und exemplarisch:

  • Wenn hier von der Architektur des „europäischen Hauses“ die Rede ist, so ist dies zunächst eine Hommage an Michael Gorbatschow, dessen Menschlichkeit für die Entwicklung in Deutschland und Mitteleuropa von so großer Bedeutung war. Der sowjetische Staatschef Gorbatschow prägte gegen Ende der achtziger Jahre den Begriff von einem „gemeinsamen europäischen Haus“, in dem in verschiedenen Zimmern Menschen unter einem Dach leben, die unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und auch Bündnissystemen angehören, aber trotzdem schicksalhaft miteinander verbunden sind. Die Geschichte hat in Mittel- und Osteuropa in den letzten 30 Jahren einen ganz anderen Verlauf genommen als man in den Jahren vor 1989 ahnen konnte. Gorbatschow behielt jedoch mit folgender Aussage recht, wie nicht zuletzt die zurückliegenden zehn Jahre zeigen: „…nur zusammen, gemeinschaftlich und indem sie vernünftige Regeln der Koexistenz befolgen, können die Europäer ihr Haus bewahren, es vor Feuersbrunst und anderen Katastrophen schützen, es besser und sicherer machen und es in einwandfreiem Zustand halten…“ (zitiert nach www.oliver-bieri.ch/kalter-krieg/ende/europäischehaus.htm; abgerufen am 29.04.2020). Das heißt der Dialog betrifft zwar im Kern die EU und ihre Mitgliedstaaten, muß jedoch im Westen und im Osten und Südosten über die EU-Grenzen hinausgehen und nicht zuletzt Russland sowie ehemalige Teilrepubliken der Sowjetunion einbeziehen.
  • Ein Blick auf die EU als Kern des institutionalisierten Europas und auf die noch frische Wunde des Brexit läßt keinen Zweifel daran, daß die EU mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs eine Wegmarke erreicht hat. Was wir jetzt dringend brauchen, ist ein Innehalten für eine bewußte Selbstvergewisserung über das Erreichte und über die Ziele der EU. Es liegt in der besonderen Verantwortung Deutschlands, einen offenen und ehrlichen Dialog über eine zukunftsweisende Architektur des „EU-Hauses“ zu starten. Die EU-Bürger, die Mitgliedstaaten, das EU-Parlament und die EU-Administration in Brüssel müssen eine klare Vorstellung und Überzeugung davon haben, nach welchen Konstruktionsprinzipien sie im 21. Jahrhundert gemeinsam am „EU-Haus“ weiterbauen sollen, im Interesse einer gedeihlichen Zukunft der Menschen und der Umwelt in Europa und weltweit.
  • Das Verhältnis der beiden EU-Verfassungsziele eines „immer engeren Zusammenschlusses“ der EU-Mitgliedstaaten und des Prinzips der „Subsidiarität“ muß gerade aus deutscher Sicht ins Zentrum des Dialogs gerückt, es muß neu durchdacht und neu austariert werden. Dabei geht es nicht allein um Bürgernähe versus Zentralismus, sondern letztlich um folgende Kernfrage: was ist die Daseinsberechtigung und das Erfolgsgeheimnis dieses völkerrechtlichen Gebildes „sui generis“, das – weder Staatenbund noch Bundesstaat – seinen Bürgern und Mitgliedstaaten eine 70-jährigen Periode in Freiheit, Frieden und Prosperität ermöglicht hat? Der US-Historiker Timothy Snyder von der Yale University sieht das spezifische Neue der EU darin, daß sie es Nationalstaaten ermöglicht zu existieren, ohne von einer Imperialmacht aufgesogen zu werden. Dies gelte exemplarisch für die kleinen EU-Mitglieder im Baltikum, die als souveräne Nationalstaaten nach 1918 an Deutschland und Russland und nach 1945 an Russland gescheitert seien (T. Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika; Beck 2018). In diesem Zusammenhang erlangt das Prinzip der Subsidiarität seine eigentliche Bedeutung. Es schützt die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten dadurch, daß Gesetze und Verwaltungsakte möglichst dezentral in den Regionen erlassen werden müssen, wo sie den Bürger direkt betreffen. Die Souveränität der rechtlich gleichgestellten EU-Mitglieder darf nicht durch eine zunehmende Kompetenzverlagerung nach Brüssel de facto ausgehöhlt werden. Das Prinzip der Subsidiarität ist ein Garant der Vielfalt und des Wettbewerbs unterschiedlicher Modelle in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, die nicht einer meist nur vordergründig effizienteren Einheitslösung geopfert werden dürfen.
  • Der Brexit ist aber nicht nur ein Weckruf an Brüssel und die Mitgliedstaaten, die für die EU wesenstypische Vielfalt und den Wettbewerb der Modelle im Sinne der Subsidiarität zu stärken. Er mahnt uns auch, im Interesse der Stabilität der Union einen „immer engeren Zusammenschluß“ dort punktuell aber gezielt voranzutreiben, wo dezentrale Modelle allein nicht ausreichen können. Das gilt z.B. beim Schutz der EU-Außengrenzen und beim Asylrecht, bei militärischen Verteidigungsaufgaben im Rahmen der NATO und bei der nuklearen Abschreckung, bei der Energiesicherheit und bei Kernfragen des Umweltschutzes.

Deutschland trägt maßgeblich die Verantwortung dafür, daß ein konstruktiver, für alle EU-Mitgliedstaaten und EU-Bürger nachvollziehbarer Dialog zur zukünftigen Architektur des „EU-Hauses“ bewußter als in den zurückliegenden 10 Jahren geführt wird. Dabei muß Deutschland auch klarstellen, was es – weil politisch im Inland nicht durchsetzbar – nicht will oder jedenfalls nicht wollen kann.

Wenn es richtig ist, daß die Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten – als Gegenprogramm zur imperialen Hegemonie einer Führungsmacht – für die EU wesentlich ist, muß Deutschland zunächst darauf bestehen, daß die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, Berechtigungen und Verpflichtungen in der EU klar geregelt und für die Bürger verständlich sind. Deutschland muß aber auch den Sirenenklängen aus dem In- und Ausland widerstehen, die von Zeit zu Zeit wie jetzt in der Corona-Krise pauschal mehr Solidarität Deutschlands einfordern und bei dieser Gelegenheit ganz nebenbei Änderungen an der Architektur des EU-Hauses durchsetzen möchten.

Wenn Deutschland post-Brexit 2019 mit 18% der EU-Bevölkerung 25% der EU-Wirtschaftsleistung erbringt, finanziert Deutschland auch 25% des EU-Haushalts, und es ist zudem der mit Abstand größte Nettozahler der EU mit 13,4 Milliarden Euro im Jahr 2018, ein Betrag, der sich nach dem Brexit voraussichtlich deutlich erhöhen wird. Während die anteilige Haushaltsfinanzierung leistungsgerecht und transparent ist, kennen nur wenige die Formel, die einen Mitgliedstaat zum Nettozahler oder -empfänger macht. Zuwendungen an andere Mitgliedstaaten ohne für jedermann transparenten Leistungsgrund provozieren im Geberland kritische Begriffe wie „Transferunion“, die sich politisch mißbrauchen lassen.


Photo: Alice Pasqual on Unsplash

Durch Solidaritätsappelle herbeigesehnte bedingungslose Transferleistungen bergen nicht nur die Gefahr der Überforderung im Geberland. Sie implizieren paradoxerweise – ähnlich wie das immer wieder diskutierte bedingungslose Grundeinkommen im Verhältnis Staat-Bürger – eine gewisse Übergriffigkeit bzw. im zwischenstaatlichen Bereich die Anmaßung einer imperialen Allzuständigkeit, welche der spezifischen EU-Architektur diametral entgegensteht.

Dr. Klaus Mössle, Frankfurt am Main, Vorstand und Mitbegründer von YOUROPEAN (Mai 2020)
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