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Juni 2016

Was hält Europa zusammen?

Es sind stets Geschichten und die Geschichte, Erinnerungen an geschlagene Schlachten und große Dichter, die Nationen zusammenhalten. Was hält Europa zusammen?

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Das historische Projekt der Europäischen Einigung wurde auf den Ruinen zweier Weltkriege und im Angesicht der erstarkenden Sowjetunion geboren. Bilder von den Soldatengräbern Verduns oder von den alljährlichen Militärparaden auf dem Roten Platz in Moskau erinnerten daran, wofür die Europäische Gemeinschaft steht: Frieden, Demokratie, soziale Marktwirtschaft.

Doch die Kraft dieser Bilder ließ mit der Zeit nach. Nachwachsende Generationen waren in Friedenszeiten aufgewachsen und kannten die Schrecken des Krieges nur noch aus den Erzählungen ihrer Großeltern oder dem Schulunterricht. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam dem freien Europa der Feind abhanden. Zugleich beschleunigte sich ab dem Ende der 1980er Jahre der Prozess der Europäischen Einigung: kaum waren das gemeinsame Grenzregime von Schengen und der Binnenmarkt eingeführt, traten nach und nach Länder des ehemaligen Ostblocks der EU bei. Und es wurde die gemeinsame Währung ins Leben gerufen. Je mehr die europäischen Institutionen zusätzliche Kompetenzen erlangten, desto weniger durchschauten die Bürgerinnen und Bürger, was in Brüssel entschieden wurde. Eine Grundskepsis gegenüber der EU verbreitete sich. Politiker der Mitgliedsstaaten machten sich dies zunutze, indem sie bei Problemen im eigenen Land nur allzu gerne auf Brüssel schimpften und damit neue Ressentiments gegen die EU schürten. Ab Anfang der 2000er Jahre erhielten rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern Europas Zulauf. Der stetige Zufluss von Einwanderern aus islamischen Ländern löste in Teilen der Bevölkerung ein Unbehagen aus, das nationalistische, fremdenfeindliche Parteien aufgriffen.

Dies war der Nährboden, auf dem die Europäische Union nacheinander vor die zwei größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen gestellt wurde. Erst die Euro-Schuldenkrise und kurz darauf die massiven Flüchtlingsströme zeigten die Grenzen europäischer Solidarität auf. Wurde auf Biegen und Brechen schließlich in der Schuldenkrise Griechenlands eine Einigung erzielt, so verweigerten sich die Regierungen mehrerer EU-Mitgliedsländer einer gemeinsamen Regelung der Fluchtbewegungen nach Europa. Mit dem Ansturm von Bürgerkriegsopfern und Armutsflüchtlingen erhielten Rechtspopulisten von Frankreich bis Polen, von Schweden bis Österreich Zulauf in Scharen. Demokratische Politiker bekamen es angesichts verloren geglaubter Wahlen mit der Angst zu tun. Europäische Visionen waren rasch vergessen, und nationale Eigeninteressen rückten stärker in den Vordergrund.

An diesem Punkt stehen wir jetzt und stellen fest, dass der gemeinsame Markt, Schengen oder der Euro allein Europa nicht zusammenzuhalten vermögen. Auch „Angst“ scheint nicht als Kitt zu taugen – die Angst vor erneuter Kleinstaaterei und dem Verlust unserer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit oder vor der Übermacht der USA, Russlands oder Chinas. Nun rächt sich, dass die Europäische Einigung immer ein Projekt der Elite war und kaum nach unten durchgedrungen ist. „Europäisch“ fühlen sich Akademiker und Manager, die zu drei-, vierstündigen Besprechungen nach London, Paris oder Madrid fliegen und abends wieder zurück sind, die zwei, drei europäische Fremdsprachen beherrschen und sich in dieser Welt zu Hause fühlen. Und im Hintergrund schwingt stets der wirtschaftliche Vorteil, der mit der europäischen Einigung verbunden ist, mit. Kann aber eine Gemeinschaft, die hauptsächlich auf die Erzielung eines Nutzens ausgerichtet ist, auch in Krisenzeiten halten?

Solidarität kann dauerhaft nur auf der Grundlage einer gemeinsamen Identität bestehen. Dessen sind sich die Europapolitiker schon seit langem bewusst. Schon 1973 verabschiedete die damals aus neun Staaten bestehende Europäische Gemeinschaft die „Deklaration über die Europäische Identität“, in der sie u.a. festhielten, dass sie „in dem Wunsch, die Geltung der rechtlichen, politischen und geistigen Werte zu sichern, zu denen sie sich bekennen, in dem Bemühen die reiche Vielfalt ihrer nationalen Kulturen zu erhalten, im Bewusstsein einer gemeinsamen Lebensauffassung, die eine Gesellschaftsordnung anstrebt, die dem Menschen dient, die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel des wirtschaftlichen Fortschritts ist, sowie der Achtung der Menschenrechte als die Grundelemente der europäischen Identität wahren [wollen].“

Die Bemühungen zur Definition einer europäischen Identität waren und sind wichtige Schritte der Selbstvergewisserung engagierter Europäer. Sie unterliegen aber einer fundamentalen Fehleinschätzung: Identität lässt sich nicht beschließen, sie wächst aus gemeinsamen Erfahrungen und dies geschieht nicht von heute auf morgen. Wir vergessen allzu häufig, dass der Prozess der europäischen Einigung erst vor drei Generationen begonnen hat. Was sind 60 Jahre Frieden und Kooperation im Vergleich zu den vielen Jahrhunderten, in denen sich die Nationen Europas gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben? Der Prozess der europäischen Einigung braucht Zeit. Gleichwohl verläuft Geschichte niemals linear, wie uns das erneute Aufflammen des Rechtspopulismus vor Augen führt. Jede Generation muss sich den innereuropäischen Frieden und Zusammenhalt von neuem erarbeiten.

Nationale Identitäten stehen der Herausbildung einer gemeinsamen Identität der Europäer nicht im Wege. Im Gegenteil, die Einheit in der Vielfalt ist unsere Stärke. Kollektive Identitäten können sich überlappen, mischen oder nebeneinander bestehen. Menschen können stolz auf ihr Land sein und sich dennoch als Europäer fühlen.

Zur Vielfalt gehört auch, dass Europa seit langem ein Einwanderungskontinent ist. Nicht nur der Wohlstand treibt Menschen hierher, sondern auch die Hoffnung, sich hier als Individuen frei und ohne Furcht vor Repressalien entfalten zu können. Wenn die Kinder und Kindeskinder der Einwanderer dann eines Tages sagen: Verdun, Auschwitz und Stalingrad sind zwar nicht unsere Geschichte, aber wir werden alles tun, damit dies sich nicht wiederholt, dann ist deren Integration gelungen.

Es ist gut, dass gebildete und besser Verdienende großenteils für die europäische Einigung sind. Aber nur ein Europa der Bürgerinnen und Bürger kann Bestand haben. Dazu bedarf es eines stärkeren zivilgesellschaftlichen Engagements sowie des kulturellen und gesellschaftlichen Austauschs über die Grenzen der Mitgliedsländer hinweg. Und wir brauchen europäische Medien, denen es gelingt, die Menschen von Lissabon bis Warschau, von Sofia bis Kopenhagen zusammenzuführen. Denn nur so entstehen Geschichten, die die Europäer verbinden und irgendwann zu einer gemeinsamen Geschichte verschmelzen.

Frankfurt am Main, 14.Juni 2016

Nassir Djafari, Diplom-Volkswirt und Mitglied von YOUROPEAN

Der Inhalt des Beitrags liegt in der Verantwortung des Verfassers und gibt ausschließlich die Meinungen, Ansichten und Einschätzungen von diesem wieder.

Frankfurt, Europa, der Brexit und ich…

photo-Oliver Wendel

ECB, Source: Oliver Wendel at https://unsplash.com/photos/vsg0_KECSVE/info Date: 09.06.2016

Es kommt ja immer alles so, wie es kommen muss. Als Frankfurter Bub, als leidenschaftlicher Europäer, als Geschäftsmann, als Kleinanleger, als Immobilienbesitzer habe ich total unterschiedliche Sichtweisen auf den drohenden BREXIT.

Für Frankfurt ist der Brexit erst mal eine gute Sache. Von einem Tag auf den anderen hört London auf, die entscheidende Rolle im Finanzbereich der Welt zu spielen. Und Paris und Frankfurt sind die Profiteure. Innerhalb von drei, vier Monaten werden die internationalen Bankfilialen in Frankfurt um ca. 30% aufgestockt, die deutschen Banken holen große Abteilungen ihrer Londoner Niederlassungen zurück nach Frankfurt. Die Immobilienpreise steigen, die Dynamik in Frankfurt nimmt zu, ob die Frankfurter Börse, wie bisher geplant, dann wirklich nach London geht, steht in den Sternen. Dazu kommt, dass die US-Wirtschaft nicht mehr den Vermittlungsweg über London nehmen wird, sondern gleich in den Europäischen Staaten ihr Korrespondentennetz aufbauen. Sie werden feststellen, dass ihnen das wirtschaftlich sehr zu Gute kommt: Die teuren Londoner Zwischenhändler fallen weg.

Von daher sieht alles erst mal rosig für mich aus. Und obendrein ist es eine Chance und Warnung zugleich, für eine zwingend notwendige Neuordnung in Europa.

Doch: Können wir das nicht auch billiger und einfacher haben? Mit Großbritannien als wunderbaren, immer etwas schrägen, eigensinnigen Partner, der immer für andere, neue, häufig sehr gute Perspektiven gut ist? GB kann durchaus ein Hort oder gar Garant für Pluralismus und Demokratie sein, die im Moment ja in ganz Europa bedroht zu sein scheinen.

Und…Frankfurt tut die Konkurrenz zu London gut. Nicht, dass die beiden Plätze, das kleine Frankfurt und das große London, wirklich miteinander vergleichbar wären, doch kommen durch London viele gute Impulse, die Frankfurt und Europa gut tun.

Dazu kommt, dass in der Phase des Umbaus weg, von London, hin zum Kontinent und Frankfurt, die Finanzmärkte verrückt spielen.

Was machen dann meine Finanzanlagen? Mindestens 50% meiner Gelder, die mühsam gesparten Rentenanlagen gehen in Rauch auf. Aber welche?

Haben die Banken dann da für mich als Kleinanleger eine Antwort drauf? Sollten sie ja. Aber Empfehlungen habe ich noch nicht bekommen. Denken die denn eigentlich an den BREXIT? Grauselt es den Banken eigentlich so wie mir davor? GB als eben schräges, liebenswertes Land in der EU zu haben, ist allein aufgrund der wunderbaren Vielfalt einfach ein must.

Frankfurt am Main, 09. Juni 2016

Bodo Bimboese, Kommunikationsberater und Mitbegründer von YOUROPEAN

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