Soziale Errungenschaften in Europa nachhaltig sichern

N e.Kostentransparenz durch „Doppik“ – Hessen als Vorbild für den Bund und für Europa!*

  • Nicht nur die Spitze des Eisbergs zeigen: kaufmännische Buchführung („Doppik“) macht die Kosten des Sozialstaats transparent – das Beispiel Hessens sollte in Deutschland und Europa Schule machen.
  • Die Kosten langfristiger politischer Versprechen wie z.B. der Mütterrente werden sofort sichtbar – Im Interesse einer nachhaltig soliden Finanzpolitik setzten die EU-Staaten die Doppik daher nach der Finanzkrise auf ihre Agenda.
  • Trotz entsprechender EU-Initiativen ist fast 10 Jahre später der politische Wille in den Mitgliedstaaten gering, die Doppik im Interesse der Transparenz und Generationengerechtigkeit einzuführen.
  • Der Bund sollte in Europa mit gutem Beispiel vorangehen und das tun, was für europäische Unternehmen seit 30 Jahren alternativlos ist, nämlich die finanziellen Folgen politischen Handelns transparent machen – die Bürger sollten dies bei der Bundestagswahl 2017 im Interesse der Nachhaltigkeit sozialer Errungenschaften in Deutschland und Europa konkret fordern!

Für YOUROPEAN und andere überzeugte Europäer ist das Glas in Europa halb voll. Diese positive Grundhaltung zu unserem europäischen Projekt kann aber nur dann überzeugen, wenn wir die Themen beim Namen nennen und transparent machen. Ganz besonders gilt dies für ein Kernthema Europas: die Sicherung sozialer Errungenschaften auch für zukünftige Generationen.

Was der Sozialstaat uns Bürgern verspricht, muss nicht nur heute und bis zur nächsten Wahl, sondern auch in 10, 30 und 50 Jahren finanzierbar sein. Wer heute im Alter von 30 in ein Rentensystem einzahlt, erwartet angemessene Rentenzahlungen auch noch im Alter von 80 Jahren und darüber hinaus.

Unternehmen müssen aus diesem Grund in Europa seit gut 30 Jahren die Kosten von  Pensionszusagen der Firmen an ihre Mitarbeiter in der Bilanz zeigen. Während solche Pensionsrückstellungen für die Privatwirtschaft seit den achziger Jahren alternativlos sind, messen die europäischen Regierungen weiterhin ganz überwiegend mit zweierlei Maß.

Als Staatsschulden werden nur die am Kapitalmarkt aufgenommenen Anleihen bilanziert. Fest zugesagte Pensionsansprüche der Bürger erhöhen die (ausgewiesenen) Staatsschulden kurioserweise nicht. Dies ist nicht etwa nur in Griechenland so, sondern auch unter dem mutmaßlich so kaufmännisch strengen Regime des deutschen Finanzministers. Als Privatunternehmer würde Herr Schäuble nicht nur gut 70% des deutschen Bruttoinlandsprodukts als Schulden ausweisen, sondern wohl rund 200%!

Eine der löblichen Ausnahmen in Deutschland und Europa ist das Bundesland Hessen: seit 2009 erfolgt die Rechnungslegung in Hessen entsprechend den kaufmännischen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Mit aufrüttelnden Ergebnissen, was die abgezinsten Kosten des hessischen Sozialstaates angeht, wie das nachfolgende Schaubild zeigt (Quelle: Hessischen Ministerium der Finanzen):

 

Ministerium Finanzen

Die herkömmliche kameralistische Buchführung zeigt nur die Spitze des Eisbergs: die Kreditverbindlichkeiten des Landes Hessens betrugen Ende 2015 rund 44 Milliarden Euro (auch „explizite Verbindlichkeiten“) oder 17 Prozent des hessischen Bruttosozialprodukts. Die eigentliche Schuldenlast des Landes Hessens ist aber viel höher. Ende 2015 betrug sie rund 144 Milliarden Euro oder 55 Prozent des hessischen Bruttosozialprodukts: Exakt 100 Milliarden Euro mehr an Verpflichtungen für Pensionen und Beihilfen (auch „implizite Verbindlichkeiten“), welche uns die Kameralistik verschweigt!

Würde man diese Systematik auf den Bund übertragen, hätte Finanzminister Schäuble Mitte der Dekade keine „schwarze Null“ feiern können. Die bei kaufmännischer Buchführung sofort zu bilanzierenden Kosten der Wahlgeschenke der Großen Koalition im Jahr 2014 – „Mütterrente“ und „Rente mit 63“ – hätten die „schwarze Null“ verhindert.

Das hessische Beispiel sollte in Deutschland und Europa Schule machen. Die deutsche Bundesregierung, die besonders auf fiskalische Solidität und Transparenz in den EU-Staaten pocht, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Sie sollte damit die nach der Finanzkrise gestarteten Initiativen der EU-Kommission zur Einführung eines neuen EU-Rechnungslegungsstandard für die öffentliche Hand auf doppischer Basis („EPSAS“) politisch unterstützen (im einzelnen hierzu Weyland/Nowak, EPSAS Update: EPSAS als Chance …, Der Konzern, 12/2016, Seite 558).

Überraschungen werden nicht ausbleiben. So wies die Stiftung Marktwirtschaft unlängst nach, daß der Sozialstaat in Italien und Portugal nachhaltiger finanziert ist als z.B. in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, und daß Luxemburg in Sachen finanzieller Nachhaltigkeit sogar die rote Laterne hat ! (Peters, Raffelhüschen, Reeker, in: Ehrbare Staaten Update 2016, Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Europa, Stiftung Marktwirtschaft, Hrsg.).

Die doppische Buchführung zumindest der Schulden könnte dazu beitragen, daß der Finanzierungsbedarf der Sozialsysteme frühzeitig offengelegt und erkannt wird und die Kosten sozialer Errungenschaften transparent werden. Nur so können im demokratischen Prozeß die sozial- und steuerpolitischen Weichen richtig gestellt werden.

Die sozialpolitische Bedeutung und Brisanz des Themas kommentierte Angela Merkel schon im Jahr 2012 ganz unmißverständlich: Die Financial Times vom 16.12.2012 zitierte die deutsche Bundeskanzlerin wie folgt (Übersetzung des Verfassers):

„Wenn Europa heute mit gut 7 Prozent der Weltbevölkerung rund 25 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet und 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben finanzieren muss, dann ist es offensichtlich, dass Europa sehr hart arbeiten muss, um seinen Wohlstand und seine Lebensqualität zu erhalten.“

Für die Sicherung der sozialen Errungenschaften in Europa wäre die europaweit zügige Einführung der doppischen Buchführung, auf die sich die EU-Mitgliedstaaten nach der Finanzkrise 2008/2009 verständigten, ein wichtiger Schritt nach vorne. Das Beispiel Hessens sollte Schule machen – nicht zuletzt als konkrete Forderung der Bürger bei der Bundestagswahl im Herbst 2017!

 

*Der Beitrag faßt die Ergebnisse des YOUROPEAN Salons vom 30.3.2017 in Frankfurt am Main zusammen, mit Referaten der Staatsministerin im Hessischen Ministerium der Finanzen Frau Dr. Bernadette Weyland und des Verfassers.

 

Juli 2017, z.Zt. Auckland, Neuseeland

Dr. Klaus Mössle, Rechtsanwalt und Mitbegründer von YOUROPEAN e.V.

Der Inhalt des Beitrags liegt in der Verantwortung des Verfassers und gibt ausschließlich die Meinungen, Ansichten und Einschätzungen von diesem wieder.

 

 

2 Comments

  • Reply Stephan Rey 27. Juli 2017 at 15:55

    Was benötigen wir Youropäer tun, um die Euroländer zur regelmäßigen Veröffentlichungen von solchen Zahlen zu bewegen ? Wie können Länder ihre Wirtschaftsbilanz Steuern und einander vertrauen, wenn sie Zahlen nutzen, die nur einen Teil der noch zu leistenden Abflüssen zeigen? Eins Buchhalter, der so in einem Unternehmen arbeiten würde, wäre entweder ein Betrüger – oder rausgeschmissen.

  • Reply Stephan Rey 27. Juli 2017 at 15:55

    Was benötigen wir Youropäer tun, um die Euroländer zur regelmäßigen Veröffentlichungen von solchen Zahlen zu bewegen ? Wie können Länder ihre Wirtschaftsbilanz Steuern und einander vertrauen, wenn sie Zahlen nutzen, die nur einen Teil der noch zu leistenden Abflüssen zeigen? Eins Buchhalter, der so in einem Unternehmen arbeiten würde, wäre entweder ein Betrüger – oder rausgeschmissen.

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