Nachruf auf den ermordeten OB Pawel Adamowicz

Auf Bitten von Youropean hat der Danzig-Experte PD Dr. Peter Oliver Loew einen Nachruf auf den ermordeten Danziger Oberbürgermeister Pawel Adamowicz verfasst. Peter Loew ist neben seiner Arbeit als Wissenschaftler am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt auch der Stellverteter des Direktors in wissenschaftlichen Fragen. Darüber hinaus übt er Lehraufträge an den Technischen Universitäten in Darmstadt und Dresden aus. An letzterer wurde Peter Loew im Jahr 2014 habilitiert und ist dort als Privatdozent tätig.

Zum Tod von Paweł Adamowicz
Ein Oberbürgermeister, der Hoffnung machte

Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut

Paweł Adamowicz war der Oberbürgermeister der Stadt Danzig. Er lebt nicht mehr. Er wurde ermordet, auf offener Bühne, in seiner Heimatstadt, während der größten Wohltätigkeitsveranstaltung Polens. Seine letzten Sätze lauteten: „Danzig ist großzügig und verbindet sich mit dem Guten. Danzig will eine Stadt der Solidarität sein. (…) Es ist eine wunderbare Sache, sich an die Seite des Guten zu stellen. Ihr seid wunderbar. Danzig ist die wunderbarste Stadt der Welt. Danke!“ Wenige Sekunden später stach der Täter dreimal zu, ein kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassener Krimineller, der meinte, sich an der liberalen Partei rächen zu müssen, unter deren Regierungszeit er verurteilt worden war.

Seit dem 14. Januar 2019 ist Polen geschockt, und am geschocktesten ist die Stadt selbst: Danzig begriff sich in den letzten beiden Jahrzehnten als Stadt der Freiheit, der liberalen Bürgerlichkeit, als Vorreiter einer Neuerfindung polnischer Identität jenseits zentralistischer Staatsvorstellungen. Diese Neudefinition ist zu einem guten Teil ein Verdienst Adamowiczs: Seit er 1998 das Amt des Oberbürgermeisters (auf Polnisch: Stadtpräsident) übernahm, eigentlich schon als Vorsitzender des Stadtparlaments seit 1994, hat er darauf hingearbeitet. Danzig hat sich in dieser Zeit tatsächlich in ungeahntem Maß verändert: Aus einer nach den Kriegszerstörungen und dem Bevölkerungsaustausch von 1945 nach wie vor zerrissenen, unfertigen Stadt, die lediglich in zwei, drei Sommermonaten auflebte, wenn Touristenströme durch die wiederaufgebauten Straßen zogen, ist ein dynamisch vibrierendes Gemeinwesen geworden, das sich in vielen Richtungen verändert hat. Der Wiederaufbau der historischen Innenstadt wurde energisch vorangetrieben, die Verkehrsinfrastruktur mit enormen Investitionen verbessert, neue Stadtteile erschlossen, vor allem aber erhielt die Stadt eine neue kulturelle Identität, versöhnte sich mit ihrer „deutschen“ Vergangenheit. Es ist Adamowicz und seinen liberalen Mitstreiterinnen und Mitstreitern zu verdanken, dass diese sozusagen multikulturelle Erzählung über die Stadt zu einer allgemein akzeptierten lokalen Erzählung geworden ist.

Adamowicz wurde als Vertreter dieser liberalen, europäischen, regionalistischen Erzählung ermordet. Polen diskutiert nun darüber, welche Rolle hierfür die dramatische Polarisierung der Gesellschaft spielt, die vor allem durch die lange marginalisierten Rechten vorangetrieben worden ist. Nachdem sie unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit 2015 an die Macht gekommen sind, haben sie keine Mühen gescheut, um Polen umzukrempeln und vieles von dem, wofür das liberale Polen lange gekämpft hatte, rückgängig zu machen. Dieser Kulturkampf, maßgeblich vorangetrieben von Jarosław Kaczyński, zwingt jede Polin, jeden Polen zur Stellungnahme: Bist Du dafür, bist Du dagegen? In diesem Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen, Beleidigungen, und angesichts der Tatsache, dass den Vertretern der Liberalen, der proeuropäischen Linken von Seiten der Regierenden oft abgesprochen wird, gleichberechtigte Mitglieder der polnischen Nation zu sein, ja als „Verräter“ gegen ein eng definiertes „nationales Interesse“ zu verstoßen, wurde Adamowicz ermordet. Insofern ist es, selbst wenn der Mörder ein psychisch gestörter Krimineller ist, auch ein politischer Mord. Polen ist erschüttert.

Paweł Adamowicz wird fehlen. Er wird auch mir fehlen. Ich habe ihn als stets für alle Vorschläge offenen, herzlichen und positiven Menschen erlebt. In vielen Gesprächen hat er immer wieder versucht, meine Skepsis über die von ihm geschaffenen Mythen und neuen Erzählungen zu zerstreuen. Ich blieb skeptisch, kann aber auch die Augen nicht davor verschließen, dass diese Mythen Danzig verändert haben: Es wurde zu einer Stadt, die Vergangenheit und Zukunft verband und aus der Geschichte Kraft für die Zukunft schöpfte. Das gelingt nicht jeder historischen Stadt. Insofern hat Paweł Adamowicz Besonderes geleistet. Seine Liebe zur Stadt Danzig ging einher mit einer großen Zuneigung zu den in ihr lebenden und aus ihr stammenden Menschen. Er, dessen Familie selbst aus Wilna vertrieben wurde, schloss selbst die deutschen Vertriebenen aus Danzig in dieses Bild seiner Stadt mit ein: Keine Selbstverständlichkeit angesichts nationalistischer Diskurse, die in Polen nie ausstarben und gegenwärtig neu aufblühen. Landesweit bekannte Lokalpolitiker mit einer ungebrochenen, unbesiegbaren, unverbiegbaren Leidenschaft, wie Adamowicz sie verkörperte, sind ein gutes Gegenmittel gegen eine oft abstrakt argumentierende und die Wirklichkeit fälschende Rhetorik der Spaltung, wie sie sich zynische, verbitterte und lediglich vom Drang nach Machterlangung und Machterhalt getriebene Politikerinnen und Politiker ausdenken.

Polen wird sich verändern. Die Ermordung von Paweł Adamowicz könnte zu einem Weckruf für alle diejenigen werden, die an ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, an ein Europa von unten glauben, an ein Europa, das nicht von griesgrämigen Misanthropen, sondern von wahren Menschenfreunden regiert und verwaltet wird. Zumindest ein wenig Hoffnung in einer traurigen Zeit.

Mit der Mode gehen

Ein Ausdruck, den vermutlich jeder kennt. Aber wie sieht unsere aktuelle Mode denn nun eigentlich aus? In den Modezeitschriften tauchen heute Begrifflichkeiten wie „Fair Fashion“ oder „nachhaltig produziert“ auf – eine Orientierung, die vor fünf Jahren mit einem tragischen Ereignis angestoßen wurde. Spätestens seitdem werden „Nachhaltigkeit“ und „Umweltbewusstsein“ immer öfter in einem Atemzug mit „Mode“ verwendet. Findet diese Entwicklung in der europäischen Gesellschaft Anklang oder geht sie einfach nur mit der Mode?

YOUROPEAN weiß die Antwort für euch – in einer Online-Marktforschungsstudie analysierte das ISK (Institut für Strategie und Kommunikation GmbH) für uns die Frage „Wie gut kommt „Nachhaltigkeit in der Mode“ bei den Konsumenten an?“. Die Ergebnisse könnt ihr in unserer Pressemitteilung nachlesen:

Mode und Nachhaltigkeit in Europa

Kleider alleine machen keine Leute mehr!

Frankfurt, den 05.12.2018 – In der Mode ist in Westeuropa zur Zeit ein gewaltiger Paradigmenwechsel im Gange. Produktionsbedingungen, Stoffzusammensetzungen, Herstellungsort und -geschichte werden immer stärker hinterfragt. Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit spielen eine immer größere Rolle in der europäischen Modewelt.

Dies ist das Ergebnis einer Online-Marktforschungsstudie, die das ISK (Institut für Strategie und Kommunikation GmbH) im Auftrag des YOUROPEAN e.V. im Zeitraum von Juli bis November 2018 durchführte. Beobachtet wurden die entsprechenden Internetdiskussionen der westeuropäischen Modeschwergewichte Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien. Berücksichtigt wurden alle Äußerungen und Meinungen zum Thema „Wie gut kommt „Nachhaltigkeit in der Mode“ bei den Konsumenten an?“ im Web. Insgesamt wurden mehr als 46.930 repräsentative Quotes ausgewertet.

2013 fiel mit dem Fabrikeintsurz Rana Plaza in Bangladesch ein Warnschuss, der im europäischen Modeverständnis ein kritisches Hinterfragen und Umdenken auslöste. Heute stehen nicht mehr Mode und kreative Entwürfe im Fokus – Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein, Herstellungsmethoden und Produktionsbedingungen spielen in Westeuropa inzwischen eine ebenso wichtige Rolle. Vor allem in Deutschland, Großbritannien und Spanien verlagert sich die Orientierung mehr in Richtung Umwelt und Nachhaltigkeit. Das Verlangen nach Transparenz über Arbeitsbedingungen, Stoffzusammensetzungen und Herstellungsorte wächst. Obendrein werden Regionalität und das Gütesiegel „Made in“ immer mehr geachtet, besonders in Frankreich und Italien. In Frankreich schlägt Nachhaltigkeit sogar dem Preis den Rang ab. Verstaubtes Öko-Image sowie „grüne Mode“ erfahren wieder Aufwind und auch Vintage-Mode erlebt ein Comeback. „Blindem Modekonsum“ wird vor allem in Spanien und Italien mit längerem Tragen und Wiederverwendung von Kleidung entgegengehalten.

Gehört der Islam zu Europa?

Zweimal JA. Einmal NEIN.

Anlässlich der Diskussionen, die schon im Vorfeld der Buchmesse zum Thema Europa und Islam geführt werden, dokumentieren wir die Ergebnisse eines der letzten YOUROPEAN Salons. Professor Dr. Tilman Allert, Soziologe und Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, hat die Frage „Gehört der Islam zu Europa“ aus seiner Sicht klar beantwortet:

JA – Kognitiv gehört der Islam für Allert eindeutig zu Europa. Unter Bezug auf Angelika Neuwirth (Der Koran als Text der Spätantike, 2010) ist der Koran für ihn ein „riesiges kanonisches Gebilde, in dem Elemente dessen, was wir abendländische Geschichte nennen, aufgenommen ist und verarbeitet ist“.

JA – Sozial-strukturell sei der Islam ebenfalls zweifellos ein Teil Europas. Allert – Sohn eines schiitischen Vaters und einer christlichen Mutter – verweist hier auf seine eigene Familienbiographie und auf die rund 7 Millionen Muslime allein in Deutschland. Er ergänzt, dass diese islamische „Wanderungsgeschichte“ die europäisch-christliche Tradition nach seiner Wahrnehmung in keiner Weise bedrohe.

NEIN – Was die „Orthodoxierung des Dogmas“ angeht. Für Allert fehlt ein systematisch und ohne Waffen geführter „theologischer Streit“ über den angeblichen Primat des Islam (“wir sind die Ersten“), der zu einer Europäisierung des Islam führen könne.

Siehe hierzu die Zitate im Video:

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Vom Schrecken ins Licht

– Retrospektive auf den Luxemburger Maler und großen Europäer Edmond Goergen eröffnet am 1. Juni 2018 in Bitburg –

 

Unter der Schirmherrschaft der königlichen Hoheiten, dem Großherzogs und der Großherzogin von Luxemburg, zeigt das Haus Beda in Bitburg, im Dreiländereck zwischen Belgien, Luxemburg und Deutschland, vom 1. bis 30. Juni 2018 eine Retrospektive auf die Werke und das Leben des Luxemburger Malers Edmond Goergen (1925 – 2000).

Wer war Edmond Goergen?

Edmond Goergen war ein großartiger Mensch und Künstler, der neben den Sonnenseiten des Lebens auch die wahren Schattenseiten kennen lernen musste. Er wurde im zweiten Weltkrieg von den Nazis festgenommen und in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht, wo er trotz schrecklicher Erfahrungen den positiven Blick und seinen Optimismus für eine bessere Zukunft in unserem meist doch sehr schönen Europa nie verlor. Er drückte dies in seiner Kunst, aber auch in verschiedenen politisch-kulturellen Initiativen aus.

Wir, Cecilie Mössle und Magda Mumme, Abiturientinnen 2017 des Lessing-Gymnasiums, hatten das Vergnügen ein aufschlussreiches Interview mit Viviane Goergen, der in Frankfurt am Main lebenden jüngeren Tochter des 2000 verstorbenen Künstlers führen zu dürfen. Der Stolz der Pianistin Viviane Goergen auf ihren Vater ist unter anderem durch seine vielen Bilder, die ihre Frankfurter Wohnung schmücken, spürbar.

Und wenn es Ihnen als Leser des Interviews wie uns geht, werden Sie sich neue Gedanken zu Ihrer eigenen Einstellung gegenüber Europa machen.

Goergen_Gemälde

Abtei Prüm mit Fahnen der Europäischen Gemeinschaft (1985)

 

„Ja, Kunst schafft Frieden.“

 

Interview mit Viviane Goergen

Wir beide hatten die Ehre Viviane Georgen kennenzulernen und mehr über ihren Vater Edmond Goergen zu erfahren. Edmond Goergen war ein luxemburgischer Maler, Zeichner, Restaurator und Widerstandskämpfer. Er wurde im Dezember 1914 geboren und gab seine größte Leidenschaft für die Kunst und seine Hoffnung auf Frieden in der Welt trotz schrecklicher Erfahrungen während der NS-Zeit nicht auf. Er starb im April 2000 und hinterließ unter anderem seine wunderschönen Werke, von denen wir einige bei seiner Tochter bewundern konnten.

Wir haben uns viel mit dem Leben Ihres Vaters befasst und haben ihn als einen sehr starken, optimistischen und leidenschaftlichen Mann kennengelernt. Wie ist er Ihnen in Erinnerung geblieben?

Frau Goergen: Ja das stimmt. Er ist ein sehr starker Mann gewesen, abgesehen von seiner Körperkraft, war auch sein ganzes Wesen voller Stärke und Optimismus, der ihm geholfen hat immer weiterzumachen und nicht aufzugeben. Mein Vater war zudem sehr begeisterungsfähig und liebte die Natur, die alten Gebäude, die Kirchen. Damals in den Ferien sind wir von Kirche zu Kirche gefahren und voller Begeisterung hat er einen Stein nach dem anderen auf Unterschiede untersucht.

Uns ist bewusst, dass Edmond Goergen in einfachen sozialen Verhältnissen aufwuchs und es ihm dadurch nicht möglich war seinem größten Wunsch, Maler zu werden, nachzugehen. Durch die Umstände war er vorerst gezwungen einen technischen Beruf zu erlernen.
Uns interessiert, ob seine Eltern seine Leidenschaft zur Kunst akzeptiert haben und ob sie für die Kunst ebenfalls Begeisterung pflegten?

Frau Goergen: Ja, wie Sie richtig sagten, kam mein Vater aus bescheidenem Haus, in dem dennoch sehr viel Sinn für Schönheit und Kunst existierte. Wenn es meinem Großvater möglich gewesen wäre, wäre er Schauspieler geworden. Er war sehr begabt und ist als Laie des Öfteren in kleinen Theatern aufgetreten.

Beide Elternteile meines Vaters brachten großes Verständnis und Bewunderung für die Leidenschaft und des Talent meines Vaters auf.

Ich komme aus Luxembourg und dort haben wir eine andere Einstellung zur Kunst und es fällt mir immer wieder hier auf, dass, wenn hier jemand Kunst macht, dies von den Eltern oft nicht unterstützt und unterdrückt wird. Das ist in Luxembourg nicht der Fall. Man hat dort einen gewissen Respekt und Achtung vor Künstlern und man unterstützt sie auch von privater Seite sehr stark. In Frankreich, wo ich auch lange gelebt habe, ist dies genauso.
Ich hatte hier in Deutschland schon mit vielen Künstlern zu tun, wo die Eltern meinten, dass ein Beruf im künstlerischen Bereich ihnen nicht viel im Leben bringen wird, es würde sich um brotlose Kunst handeln. Das ist ein Denken, was hier stark verhaftet ist und ich finde es schade, weil es sich bloß um einen Gedanken handelt, der so vieles blockiert…

Frau Goergen, Sie sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, aber Ihr Vater hat diese Zeit als junger Mann miterlebt. Er war erst 28 Jahre jung, als er anfing als Widerstandskämpfer Menschen der Flucht aus Deutschland zu verhelfen, was uns sehr beeindruckt. Sind Sie stolz auf Ihren Vater oder betrachten Sie dies eher als leichtsinnig, immerhin konnte dieses Verhalten einem damals das Leben kosten.

Frau Goergen: Sein Handeln war äußerst gefährlich für ihn. Aber sie müssen sich vorstellen, dass Luxembourg ein kleines Land war, in das die Truppen sofort einmarschiert sind und die jungen Luxemburger rekrutiert wurden, um dann bei der Wehrmacht auf das eigene Volk zu schießen. Viele junge Luxemburger  haben sich damals ein Bein abschneiden lassen, damit sie unfähig waren in den Dienst zu gehen. Ich denke, dass mein Vater das Volk retten und schützen wollte. Er hat Menschen zusammengetrommelt und als er gemerkt hat, dass Luxembourg zu klein ist, hat er sich mit Frankreich zusammengetan. Mein Vater hat alleine 150 Luxemburgern geholfen über die Grenze nach Frankreich zu flüchten, wo sie dann von Franzosen bis nach England gebracht worden sind. Mein Vater sowie seine Anhänger waren alle sehr jung und hatten das Bedürfnis zu helfen. Sie hatten nicht mit den schweren Konsequenzen gerechnet, sondern instinktiv gehandelt. Mir ist bewusst, dass mein Vater in der Zeit sehr viel riskiert hat. Meine Mutter und meine Schwester waren auf einem Bauernhof jedoch gut aufgehoben, was damals immer ein sehr sicherer Ort gewesen ist. Ich bin sehr stolz auf meinen Vater und ich denke es ist richtig zu sagen, dass er ein außergewöhnlicher Mann war.

Nachdem Ihr Vater von der Gestapo verraten worden war, wurde er in das Konzentrationslager Mauthausen transportiert. Seine Leidenschaft für die Kunst hat er dort trotz der schrecklichen Verhältnisse weiter verfolgen können. Wie war das möglich, wenn den Häftlingen außer Essen und Kleidung nichts gegeben wurde? Wissen Sie, wie er sich das Material zum Zeichnen beschafft hat?

Frau Goergen: Mein Vater hatte einen luxemburgischen Freund, der ebenfalls  dort inhaftiert war. Er war ein sehr gescheiter Mann, der nach seiner Befreiung sogar Minister, Außenminister und Parlamentspräsident wurde. Er sprach 25 Sprachen. Auf seine Intelligenz ist man im Konzentrationslager schnell aufmerksam geworden, woraufhin er ins Büro versetzt wurde, wo er für die Nazis arbeiten musste. Dadurch hatte er gewisse Vorteile, wie zum Beispiel den Zugriff auf Papier und Bleistifte, die er meinem Vater heimlich weitergab. Als die Amerikaner das Lager befreiten, gelang es meinem Vater eine Reihe von Zeichnungen mitzunehmen, welche heutzutage in verschiedenen Museen ausgestellt sind.

War Kunst in dieser schrecklichen Zeit, die Ihr Vater erfahren hat, eine Art Überlebensmittel oder Kraftspender für ihn?

Frau Goergen: Ja, es ist sehr wichtig, dass man lernt einen Weg zu finden mit erlebten, schlimmen Ereignissen umzugehen. Bei meinem Vater war es das Zeichnen. Er konnte schlimme Schicksale, die er gesehen hat, durch Kunst einfangen und verarbeiten.

Nachdem er befreit worden war, behielt ihr Vater trotz schrecklicher Vergangenheit seinen optimistischen Blick auf die Welt bei. Er setzte sich zum Ziel Deutschland und die Nachbarstaaten wieder zusammenzubringen. Was hat Ihren Vater so dazu gedrängt?

Frau Goergen: Während seiner Gefangenschaft gehörte er einer politischen Gruppierung Gefangener aus der Tschechoslowakei an. Es waren sehr gescheite Leute mit denen er abends gute Gespräche führen konnte. Man einigte sich darauf, dass man im Falle einer Befreiung alles dafür tun müsse, den Völkerhass zu überwinden, damit so etwas nie mehr vorkommen muss. Jeder schwor sich einsetzten, die Menschen zusammenzubringen, was mein Vater dann in seinem Gebiet auch stetig versuchte. Sobald sich eine Möglichkeit ergab, versuchte er Maler aus Belgien, Frankreich und Deutschland dafür zu gewinnen sich bei Ausstellungen in den jeweiligen Ländern zu beteiligen. Das hat er bis zum Schluss weitergeführt. Kunst ist wie eine gemeinsame Sprache, die verbindet. Für Deutschland ist die Stadt Prüm für diese Ausstellungen verantwortlich gewesen.

Glauben Sie, dass man heute noch mit Kunst Frieden schaffen kann?

Frau Goergen: Mit jeglicher Art von Kunst, dazu zähle ich auch meine große Leidenschaft für die Musik, kann man Frieden schaffen. Durch die Kunst vereint man die Menschen. Die Musik hat zum Beispiel die Fähigkeit Menschen wieder zur vollkommenen Harmonie zu bringen und das funktioniert auf der ganzen Welt.

Manche machen sich die Kraft der Töne, andere der Farben und wiederum anderer der Worte zu Eigen. Kunst erweckt Gefühle und Gefühle sind bei den Menschen auf der ganzen Welt gleich. Die Probleme entstehen durch das Denken, durch das rein Rationale. Sobald Gefühle, das Herz und die Seele eine Rolle spielen, ist Friede da.

Mein Vater begegnete einst einem Mann, der, sobald es dunkel wurde, schizophren war und in seinem Wahn nächst beliebige Personen anfing zu würgen. Als mein Vater eines Nachts aufwachte und merkte, dass dieser Mann sich auf seinen Zimmergenossen gestürzt hatte und diesen würgt, kam ihm die plötzliche Idee ein Lied über Mütter zu singen. Kaum begonnen, ließ der Mann von dem anderen ab und verließ das Zimmer mit Tränen überströmtem Gesicht.

 

Persönliche Fragen

Wie war Ihr Vater privat? Hat er viel aus seiner Vergangenheit erzählt?

Frau Goergen: Bei uns wurde viel über die Zeit im Krieg gesprochen. Damals gab es keine Psychologen, die den Menschen beim Verarbeiten helfen konnten. Jeder musste also zurück in sein altes Leben kehren und mit der Vergangenheit alleine zurechtkommen. Viele Menschen suchten meinen Vater in seinem Atelier auf, um über seine Zeit im Konzentrationslager zu sprechen. Auch davon erzählte er uns, jedoch nie, was er in der Zeit empfunden hat. Trotz der schrecklichen Vergangenheit meines Vaters, hat er stets versucht das Schöne im Leben zu sehen und dies hat er mit schöner Natur in seinen Bildern zum Ausdruck gebracht. Mein Vater hat sein “zweites Leben” sehr zu schätzen gewusst. Er hatte sehr viele Freunde, war sehr beliebt. Da er die Erfahrung gemacht hat, dass das Leben auf einen Schlag vorbei sein kann, versuchte er so viel wie möglich zu unternehmen.

Hat ihr Vater auch ab und zu mit Ihnen gemalt und seine Gabe geteilt?

Frau Goergen: Ja! Allerdings ist mein erstes Kunstwerk eine Katastrophe geworden. Mein Vater hat mich gemalt als ich drei Jahre alt war. Ich musste also da sitzen und zuschauen, wie er mit dem Pinsel arbeitete, was für mich sehr interessant aussah. Plötzlich klingelte das Telefon, es war wohl ein dringender Anruf, also ging er weg und hatte mich zusammen mit der Staffelei vergessen. Ich wartete eine Weile, bis ich mich auf seinen Stuhl setzte und selbst den Pinsel in die Hand nahm. Die Katastrophe, die ich auf die Leinwand brachte, versteckte ich mit schlechtem Gewissen hinter anderen Bildern. Abends wollte mein Vater unserem Besucht das Werk stolz präsentieren. Anfangs nahm er es mir, nachdem er das Bild endlich gefunden hatte, sehr übel bis er allmählich verstand, dass ich es aus Begeisterung an der Kunst getan hatte. Wir malten noch oft zusammen und auch sein Talent scheint mir wohl in die Wiege gelegt worden zu sein. Allerdings reichte es mir, meinen Vater als Vater zu haben und nicht als Lehrer.

Haben sie ein Lieblingsbild von Ihrem Vater?

Frau Goergen: Mein Lieblingsbild im Moment ist das vom Baum. Es ist ein sehr starkes Bild, wobei er hier eine etwas kältere und ernstere Atmosphäre aufs Papier gebracht hat. Trotz seiner positiven Einstellung, konnte er seine Vergangenheit jedoch nicht ganz ausblenden. Dieser Baum versprüht eine enorme Energie, die mein Vater ebenfalls besaß.

Finden sie Ihren Vater oft auch in sich selbst wieder?

Frau Goergen: In gewissen Dingen ähneln wir uns sehr. Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander und die Kunst sowie die geistige Ebene haben uns sehr verbunden. Sein politisches Engagement begeisterte mich immer sehr, weshalb ich ihm gerne zuhörte. Er konnte die Politik von einer Vogelperspektive einschätzen, wie es nur wenige konnten und lag mit seinen Aussagen auch meist sehr richtig. Die Gabe, sehr schnell einen Überblick zu gewinnen, habe ich von ihm.
Mein Vater hatte ein sehr gutes Menschenbild und sah auch bei schwierigeren Menschen das Gute. Auch die äußerlichen Ähnlichkeiten konnten wir nicht leugnen.

Das wars auch schon Frau Goergen. Vielen vielen Dank, dass wir da sein durften und Sie uns so offen auf unsere Fragen geantwortet haben.

Brücken

Brücke Karl des IV. in Prag, Tschechien (1981)

 

In der Nachkriegszeit war Goergen 1957 maßgeblich an der Gründung der  „Europäischen Vereinigung Bildender Künstler aus Eifel und Ardennen“ beteiligt, einer Vereinigung von Künstlern aus Belgien, Frankreich, Luxembourg und Deutschland, welche regelmäßig Ausstellungen mit Repräsentanten der vier Länder organisierten.

1968 wurde ein Kulturabkommen zwischen Luxembourg und der Tschechoslowakei  verabschiedet, nachdem Goergen mit Peter Planer, dem späteren Kulturminister in Prag, im Konzentrationslager Mauthausen inhaftiert gewesen war. Ebenfalls 1968 war Goergen zusammen mit Pierre Grégoire Mitbegründer des Europäischen Komitees zur wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung und der Folgen des Zweiten Weltkriegs. Ehrenpräsidenten des Komitees waren Willy Brandt, Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Pierre Grégoire, Außenminister des Großherzogtums Luxembourg, und André Malraux, Staatsminister für Kultur der Republik Frankreich. Bereits 1985 war Goergen Mitgründer der Deutsch-Luxemburgischen Begegnung mit Sitz in Trier; dadurch kam es zu vielen echten Freundschaften zwischen Luxembourg und Deutschland und darüber hinaus entstand ein reger kultureller Austausch zwischen den beiden Ländern inklusive großer Retrospektiven der Werke Goergens.

Bemerkenswert ist es, dass Edmond Goergen trotz seiner Erfahrungen im KZ nach so kurzer Zeit wieder bewusst Kontakt zu Deutschland suchte.

Wir beschließen unsere Hommage mit einem Zitat Edmond Goergens, das seinen Wunsch nach europäischer Vielfalt im Zusammenhang mit der europäischen Einigung kurz und klar dokumentiert.

„Dabei dürfen wir doch weder unsere Eigenart noch den Ausblick auf die internationale Völkergemeinschaft außer Acht lassen.“

Portait

Cecilie Mössle, Viviane Goergen und Magda Mumme

Im Mai 2018

Cecilie Mössle & Magda Mumme, Abiturientinnen 2017 des Lessing-Gymnasiums in Frankfurt am Main

Der Inhalt des Beitrags liegt in der Verantwortung des Verfassers und gibt ausschließlich die Meinungen, Ansichten und Einschätzungen von diesem wieder.

Es wird Zeit, dass wir uns emanzipieren

Oder: Ich will nur von Leuten regiert werden, die ich auch hätte wählen können

Es kommt nun langsam heraus: Donald Trump regiert mich, Frankfurt, Hessen, Deutschland, Europa. Und warum?

Weil wir Europäer uns einfach nicht einig sind. Unsere Kanzlerin mauert gegen die Europäische Einheit. Und sie ist dabei nicht alleine. Aber immerhin, ich habe keinen Grund zum Klagen, habe ich sie doch gewählt – oder hätte sie wählen können.

Donald Trump, den ich nicht hätte wählen können, regiert mich aber aktiv. Er schreibt mir und uns allen Europäern durch das Mittel der Erpressung vor, was wir zu tun und zu lassen haben.

Und ehrlich: Das will ich einfach nicht. Ich glaube unter anderem daran, dass die Verträge die wir mit dem Iran haben, eingehalten werden sollen.

Wenn die USA uns mit Handels, – Zoll, – und sonstigen Repressalien drohen, sollten wir Europäer gelassen aber eben in Einheit damit umgehen: Die vereinte,wichtigste Wirtschaftsmacht der Erde kann auch die USA nicht negieren. Wenn wir dann notgedrungen noch mit dem Rest der Welt enger zusammenrücken, wird die USA sich entweder isolieren oder eben in den bewährten Status quo zurückkehren.

Im Mai 2018

Bodo Bimboese, Mitbegründer von YOUROPEAN e.V.

Der Inhalt des Beitrags liegt in der Verantwortung des Verfassers und gibt ausschließlich die Meinungen, Ansichten und Einschätzungen von diesem wieder.

 

A New Leitmotiv for the European Concert!

– “Ever closer union” to be balanced against “subsidiarity” –

 

  • After Brexit a new Leitmotiv for the European concert is needed
  • Major Impulses for a fresh European discourse have to come from France and Germany
  • The centralist concept of „ever closer union“ has to be balanced against the federative „principle of subsidiarity“
  • EU policy based on subsidiarity as a new Leitmotiv could draw on 170 years of federal experience in Switzerland, a  Europe en miniature comprising four cultures and languages
  • The Swiss example  points to more centralization in same areas, but also to less integration in others, and it  shows for example that a common currency does not mandate joint liability for member state debt.

A sober analysis of European integration from the Schumann Plan (1950) over the Treaty of Maastricht (1992) to the Treaty of Lisbon (2007) reveals a few important key facts on European integration: major impulses to be agreed upon by 27 member states will have to come from France and Germany; a re-assessment of existing treaties is needed; after Brexit our two countries no longer can blame the United Kingdom for blocking EU progress; and, even more importantly, we have to become explicit what we mean by “progress” from the current state of the Union.

It still feels wonderful how Macron won the French election with a pro-European agenda thereby stopping a potentially vicious circle for the EU. Now is the time for a very honest discussion about the meaning of  “ever closer union among the peoples of Europe” (“union sans cesse plus étroite…”; “immer engere Union…”), as stipulated in the preamble of the EU Treaty. This European discourse has to be lead from a French, German and other EU members´ perspective.

The centralist French tradition and the federalist and regional tradition of  Germany alone are not easily reconciled. And while the EU Treaty continues to be “drawing inspiration from the cultural, religious and humanist inheritance of Europe” as the basis for freedom, democracy, equality and the rule of law, the Treaty of Lisbon (2007) has been widely understood as focusing pragmatically on economic efficiency and closer political integration. The European concert appears to be following a score which not all members of the EU orchestra have been willing or able to play along.

It was the British Angst (!) of being drawn into an irreversible process of ever closer European integration that ultimately lead to Brexit. Back in 2014, then UK Prime Minister Cameron left no doubt that in his view an ongoing EU integration process at some point might become irreconcilable with British interests and political instincts; summarizing his EU reform agenda, Cameron highlighted a crucial action point in 2014 as follows:

“… dealing properly with the concept of ‘ever closer union’, enshrined in the treaty, to which every EU country now has to sign up. It may appeal to some countries. But it is not right for Britain, and we must ensure we are no longer subject to it” 

(The Daily Telegraph, March 15, 2014, quoted after http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7230).

Brexit has not solved, but rather accentuated, the riddle of what “ever closer union” means. A growing number of EU orchestra members may have become hesitant just to play along without knowing where the musical score ultimately takes them. And they certainly have taken note of the conspicuous German silence vis-à-vis the remarkable and almost revolutionary enthusiasm of Macron´s “en marche” movement towards a next stage of European integration.

Therefore, a re-assessment of the EU treaty architecture post Brexit has become indispensable. It is not only due for obvious “technical” reasons concerning re-calibration of quora, majority and blocking minority definitions. It is simply a necessary condition for a continuation of the European success story. The European concert needs a new Leitmotiv.

The responsibility for initiating and steering such a re-assessment lies with Germany and France. And, after France´s grand re-opening of the European discourse in 2017, it is now Germany´s turn to end its silence and speak its mind, even if we agree with Thomas Mann that Germany “does not speak well” and will never be able to match the beautiful rhetoric of our French friends.

A good starting point for the Franco-Germanic dialogue would once more be the preamble of the Treaty of Lisbon: when the EU-skeptic discourse of our British friends narrowly circled around the words “ever closer union”, it ignored the explicit desire of the signatory states to balance the concept of ever closer union against the principle of subsidiarity, by aiming for

“… an ever closer union among the peoples of Europe, in which decisions are taken as closely as possible to the citizen in accordance with the principle of subsidiarity(underlining added).

From a German perspective the importance of the principle of subsidiarity as building principle of the EU cannot be overstated. Not only is it embedded in Germany´s historic federal, religious and social traditions; the Bundestag as the German sovereign was paving the way for the Maastricht Treaty in 1992 when it enshrined the principle of subsidiarity in Article 23 of the German Constitution. This so-called “Europa-Artikel” authorizes the transfer of German sovereign rights in connection with the EU integration process only as long as the EU, among other things, is bound by “federative principles and the principle of subsidiarity”.

In the search of a good way ahead for the EU, a conscious and real focus on, rather than mere lip service to, subsidiarity as an organizational principle for EU cooperation should provide an excellent Leitmotiv for a continued European success story. And, by the way, our Swiss neighbors with 170 years of federal experience should be invited to provide additional insights to the European federal discourse. Switzerland, like a Europe en miniature, comprises four cultures and languages and has incorporated the principle of subsidiarity in the new Art. 5a of its Constitution in 2008, as mandated by a referendum.

To start with, a real focus on subsidiarity could do away with the common misunderstanding that efficiency and cost savings are ends in itself and synonymous for “progress” in the context of European integration. Like in any organization, central units with respective budgets tend to create central expertise followed by a centralization of competencies, in the apparently best interest of a most efficient use of available resources. While this may be a desired outcome in a business context, the principle of subsidiarity aims to have political responsibilities exercised as closely as possible to the citizens who are affected by the respective legislative, administrative or judicial acts.

Ideally this decentralized approach produces results which adequately consider the particular local situation and needs of the citizens. It should also help European citizens to better understand how the EU helps to solve or mitigate their concrete problems and concerns. It seems obvious that these concerns are very different today from what they were in the first 50 years of post-war European integration.

It is probably realistic that today European citizens from Tallin to Lisbon are less concerned with high level European ideals or with the next step in a seemingly abstract process towards an “ever closer union”. They expect a sober and transparent assessment of the status quo of the Union, lessons learned from the causes of Brexit, and political leadership on how to address  the most urgent challenges for us Europeans. Topics such as external and internal security, demographics and immigration, government debt and sustainability of welfare states have in reality – that is in voters´ minds – gained top priority. When talking about democracy and the rule of law, we should also not forget direct physical threats of terrorist attacks as evidenced by the fact that France  was governed under a state of emergency for two years until October 2017, well into Macron´s presidency!

In such „interesting times“ pro-European leadership means to meet citizens´ and voters´ expectations for a thorough, honest, forward looking, „glass is half full“ democratic debate on the shape and spirit of post Brexit EU. A revival on EU level of the principle of subsidiarity would probably still point to significantly more coordination in areas where concerted acting is indispensable (e.g. internal and external security, migration, central bank policy), but it would certainly mean less, slower, and more careful integration in quite a few areas where the experts in Brussel may have unduly sacrified diversity of approaches for assumed efficiency gains. In this context, the Swiss model also provides evidence that a common currency does not presuppose joint liability for member state respectively cantonal debt!

With responsible political leadership and forward looking citizen engagement across the European Union re-focused on the time-tested Leitmotiv of subsidiarity, the new music score for the European concert will not resemble a swan song like Ravel´s famous La Valse first performed in 1920, but rather express the optimism and Lebensfreude of Schumann´s “Rheinische Sinfonie”, composed 1850 after a joyful and peaceful trip to the Rhineland together with his wife Clara.

 

In February 2018

Dr. Klaus Mössle, Rechtsanwalt und Mitbegründer von YOUROPEAN e.V.

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The (monetary) future of Europe / Jean-Claude Trichet ex-president of the ECB – Goethe University, Frankfurt am Main, Tuesday 14 November 2017

Jean-Claude Trichet, ex-President of the European Central Bank, spoke at a conference organized by the German-French Society Tuesday 14 November 2017 at the Goethe University. Stephan Rey, one of our members, was there. He posted his notes for your perusal.

 

The (monetary) future of Europe / Jean-Claude Trichet ex-president of the ECB  – Goethe University, Frankfurt am Main, Tuesday 14 November 2017

The paradox of the Euro area is the stretch between its 19 member countries. Some are incredible „signatures“ in terms of reputation (Germany, the Netherlands) – even better than the US, and others are fighting an uphill battle to come along (Greece, Portugal, Ireland).
Despite the UK and the US telling us that we would never be able to see the Euro survive, it did. This is remarkable when considering that 6 items could have brought it down:

1) Many countries did not respect the Stability & Growth Pact.
2) Europe did not have a proper governance and had no means of controlling cost competitiveness, thus there were sustained divergences of European economies.
3) There was no tool to cope with market challenges, such as speculations done to destabilize the currency and, consequently, the EU economies (the US saw major currency speculations and themselves have a program called TARP to protect against such: from Wikipedia: The Troubled Asset Relief Program (TARP) is a program of the United States government to purchase toxic assets and equity from financial institutions to strengthen its financial sector that was signed into law by President George W. Bush on October 3, 2008. It was a component of the government’s measures in 2008 to address the subprime mortgage crisis. The TARP program originally authorized expenditures of $700 billion. The Emergency Economic Stabilization Act of 2008 created the TARP program.)
4) There was no banking union to better coordinate decisions and the protection of banks.
5) There was no single market.
6) Many EU countries failed to implement structural reforms.

Nonetheless, Europe was able to react faster than expected when confronted with the vagaries of the market. This has been insufficiently communicated to the public. It has proved extremely resilient during the 2007-2008 financial banking crisis (Lehman), according to J.-C. Trichet the worse financial crisis since World War I. This was not so much felt in Germany as it had done its homework in terms of restructuring. The Euro started from scratch and against all odds came even with the US dollar in terms of market volume.  It survived the 2010-2011 credit worthiness crisis of Greece, Ireland, Portugal and then Spain and Italy. The only community that lent money to EU countries in needs (Greece, Spain, Portugal) were Europe and the IMF.

Jean-Claude Trichet saw 6 reasons why circumstances now encourage further strengthening of the European Union.

  1. The Euro confirmed that it was resilient throughout the crisis and the Euro group grew from 15 countries in 2008 to 19 today. The Euro fluctuated less than any ex-national currency before the Euro (Deutschmarks, Drachmas, French francs, Gulden, etc.). The Euro has shown a remarkable capacity to keep its value over time and showed low inflation. Thus its value is better than any national currency for that same stretch of time pre Euro.
  2. People in Europe have confirmed their attachment to Europe. The French extreme right did neither like the Euro nor Europe and lost on that base. 81% in Europe today approve of a single currency.
  3. Emmanuel Macron waved the European flag and won on this basis
  4. Europe has a favorable conjuncture – we are talking real economy because of low inflation. The IMF was foreseeing +1.7% GDP growth in April this year, then increased it to +1.9% while the number is now closer to 2.2% according to the last polls and economic statistics. There is a virtuous circle within European countries that benefit both the countries on their own as well as the Euro group within that Union
  5. US is withdrawing from Europe under the guidance of Trump. Europe now has to defend itself without counting on its big US brother. This brings the people together (a closer military unity has been decided yesterday, seen by many as as big a step as the creation of the European market)
  6. There were little international reactions when red line were crossed: Crimea taken by the Russian in the Ukraine, conflicts in the Middle East and sub sahara Africa. Europe is realizing that the geostrategic stakes have changed and it has to ramp up its engagement. Europe has a higher propensity now to do things together, be it defense, both domestic and borders, fighting against crime, illegal acts etc. There is a high support from the European Court. Shengen space is seen as important by a large majority. The next steps will be to see whether a European budget should be established and more democratic abilities and accountability can be obtained by all its member countries.

BREXIT will hurt, as Britain was a net contributor in terms of fiscal policy. It took part – like all other countries – in all decisions on spending that have been made within Europe. This has still not been communicated clearly to the UK people. Any act that comes needs to be understandable for all and justified. All countries have paid so far their pro rata contribution in monetary policy. Thus all countries pay their share for Greece, it is not solely Germany as one might believe when reading the German popular newsdaily Bild.

J.-C. Trichet closed stating he was proud to have been part of history in the making. The Euro had made it thanks to the boldness of its members, their capability to deliver in times of hardship and the resilience of the currency.

 

Im November 2017

Stephan Rey, Mitglied von YOUROPEAN e.V.

Der Inhalt des Beitrags liegt in der Verantwortung des Verfassers und gibt ausschließlich die Meinungen, Ansichten und Einschätzungen von diesem wieder.

Trans-Europa Express

 Nachlese zur Frankfurter Buchmesse 2016*

 

  • Was ist Europa?

Es fehlt eine Europa-Wetterkarte im Fernsehen

  • Ist Europa zu retten ?

Wir Schriftsteller arbeiten wie kleine Ameisen Stück für Stück an Europa 

  • Was lehrt uns die Geschichte?

Ein Wechsel von Interessen- zu Identitätspolitik birgt Gefahren

  • Europa als Bastion der Freiheit?

Die Beispiele Türkei und Russland

  • Die Sprache von Gibraltar – Europäische Identität?

Es gibt nicht die eine europäische Identität

  • Europa der Werte – kultureller Austausch und „robuste Zivilität“!

Europa lebt vom Austausch und Wettstreit der Ideen

 

*Impressionen aus Podiumsdiskussionen mit Autoren im Rahmen des von Litprom e.V. organisierten „Weltempfangs“ der Frankfurter Buchmesse 2016, dessen Diskussionsreihe unter dem Motto „Jetzt erst recht, Europa!“ stand.

 

Was ist Europa?

„Warum gibt es kein Fernsehprogramm mit einem europäischen Wetterbericht den ganzen Tag?“ fragt die auf Französisch diskutierende Schriftstellerin Shumona Sinha („Erschlagt die Armen“, Nautilus 2015), die sich schon als Kind in ihrer Heimatstadt Kalkutta über „BBC World Weather“ mit der geographischen Dimension des British Commonwealth vertraut  machte. Bei dieser Frage stieg ich auf der Frankfurter Buchmesse 2016 in meinen literarischen „Trans-Europa-Express“ ein, so der Titel einer Podiumsdiskussion des „Weltempfangs“, dessen Diskussionsreihe unter dem Motto „Jetzt erst recht, Europa!“ stand.

Literarisch konnte Shumona Sinha schon als Teenager Europa ohne Probleme definieren: „Für mich gab es in Indien nur eine europäische Literatur“, die alle kontinentaleuropäischen Länder umfasste. Russische, französische, italienische, … Literatur, „alles war ins Bengalische übersetzt“ und wurde von der angehenden Schriftstellerin ganz selbstverständlich als eine europäische Literatur wahrgenommen. Dagegen sah sie das Vereinigte Königreich auch kulturell „immer separat“, eine Anspielung auf den Brexit, die mir den in der Geschäftswelt verbreiteten Begriff „EMEA“ für die Region „Europe, Middle East and Africa“, natürlich ohne UK,  in Erinnerung rief; und auch die Schlagzeile, die vor geraumer Zeit in der Londoner Times erschienen sein soll: „Fog over the Channel, Europe isolated“.

 

Ist Europa zu retten ?

Ist die Hoffnung realistisch, so die Frage des Moderators Peter Ripken, dass Literatur und die Kultur allgemein das Europa,  „von dem wir träumen“, retten kann?  Die aus Sardinien stammende Paola Soriga („Wo Rom aufhört?“, Wagenbach 2014) ist sich da aus italienischer Perspektive nicht so sicher. So seien z.B. die Lehrpläne der humanistischen Gymnasien in Italien („lettere“) sehr stark auf Italienische Literatur konzentriert. Als „Optimista de Natura“ setzt sie ihre Hoffnung jedoch auf die neuen Generationen, durch  Interrail,  Erasmus-Programme und Billigflüge europaweit unterwegs und mit unterschiedlichen europäischen Kulturen und Lebensstilen fast selbstverständlich vertraut. Wobei, so Soriga, Literatur und Kultur ihre Wirkung nicht isoliert, sondern nur im Zusammenwirken mit guter Politik, vor allem Sozialpolitik entfalten könnten.

Es gehe, so fügt die spanische Autorin Mercedes Monmany aus Barcelona hinzu, um ein Europa der Werte. Und sie warnt zugleich vor unrealistischen Erwartungen, da es nicht allzu viele Themen gebe, die Ost- und Westeuropa oder Länder wie Spanien und Finnland verbinden. Sie hat sich trotzdem oder gerade deswegen in ihrem 2016 auf Spanisch veröffentlichten Buch „Por las Fronteras de Europa“ zu den Grenzen Europas aufgemacht, um europäische Geschichten aufzuspüren. In einem Interview vom 11.5.2015 äußert sie sich dazu wie folgt (Zeitschrift El Cultural, zit. nach http://www.elcultural.com/noticias/buenos-dias/Mercedes-Monmany/7750; Übersetzung des Vf.):

“Europa ist ein Bündel von Identitäten, die wie die russischen Matrioschkas funktionieren. Auch wenn es utopisch klingt, der europäische Geist müsste sich schon in der Kindheit entwickeln, aus den Schulen heraus. [Claudio] Magris kennt das sehr gut: in Triest geboren, fühlt er sich zutiefst als Italiener und besitzt zur gleichen Zeit eine überwölbende europäische Identität. Ich glaube nicht, dass Europa sich ausgehend von Fernsehnachrichten bauen lässt …, ohne dass man von einer gemeinsamen Kultur spricht.“

Allein über Wirtschaft zu sprechen heiße von dem zu sprechen, das uns trennt, das uns einander entfremdet. Europäische Geschichten entstünden nur durch Austausch, durch Treffen und Gespräche, in Küchen, auf der Straße, in Cafés, …

Shumona Sinha setzt viel Hoffnung und Optimismus auf „Métisage“ – ohne jedoch diesen komplexen Begriff des kulturellen und persönlichen Austauschs näher zu qualifizieren – und nicht zuletzt in die Literatur: Wir Schriftsteller, sagt sie, sind alle „kleine Ameisen“, die Stück für Stück, „Tropfen für Tropfen“ an Europa arbeiten.

Was lehrt uns die Geschichte?

Ian Kershaw beschreibt in seinem Ende 2015 erschienenen Buch „Höllensturz“, wie sich die europäische Zivilisation in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch aggressiven Nationalismus, Gebietsstreitigkeiten, Klassenkonflikte und Wirtschaftskrisen an den Rand der Selbstzerstörung brachte. Auf dem Podium Europa! der Buchmesse sieht Kershaw wenig Parallelen zwischen der heutigen Situation und der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Mit einem indirekten Seitenhieb auf die 2012 veröffentliche Analyse „The Sleepwalkers: How Europe went to War in 1914“ des australischen Historikers Christopher Clark verneint Kershaw ein eher zufälliges „Hineinschlittern“ und stellt fest, dass es klare gemeinsame Ursachen für den Ersten Weltkrieg gab, alle europäischen Kriegsmächte hätten aus paranoiden Ängsten mitgewirkt. Heute hätten die Atommächte ein großes Interesse an Mäßigung.

Herfried Münkler („Macht in der Mitte: Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa“, 2015) diskutiert die Frage, inwiefern Ängste heute im historischen Vergleich das Verhalten verzerren. Die aufstrebenden Wirtschaftsmächte Deutschland (1914) und China (heute) fühlten bzw. fühlen sich mit einer gewissen Berechtigung als wirtschaftlich „strangulierbar“. Deutschland habe darauf in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit dem fatalen „Drang nach Osten“ reagiert, China implementiere derzeit eine  „Seidenstraßenstrategie“, um sich für seine Absatz- und Rohstoffmärkte einen Landweg zu sichern.

In den europäischen Demokratien grassierten heute Ängste anderer Art, z.B. Ängste vor den Folgen der Globalisierung, die sich laut Münkler nicht in konstruktive Furcht vor konkret identifizierten Problemen umwandeln, sondern diffus bleiben. Die Verantwortung hierfür liege bei den Medien, nicht zuletzt den sozialen Medien, sowie bei den Politikern, die die Lösbarkeit der Probleme auf nationaler oder europäischer Ebene nicht erklären könnten. Laut Kershaw zielt die Reaktion auf diese Unsicherheiten, nämlich eine Politik der „De-Globalisierung“ genau in die falsche Richtung. Es sei „irrational“, die Brüsseler Bürokratie, den Euro und die EU-Immigranten als Sündenböcke hochzustilisieren, wie exemplarisch in der politischen Kampagne für den Brexit geschehen. Münkler ergänzt unter dem Stichwort „Tragödie der Allmende“, es brauche eine gewisse Weitsicht und Klugheit nicht zuletzt der Netto-Geberländer, den Nutzen gemeinschaftlicher Güter (sog. „Club-Güter“) und supranationaler Institutionen zu erkennen.

Wenn Politik und Gesellschaft sich nicht mehr über ihre objektiven Interessen verständigen können, führt dies laut Kershaw in Demokratien – auch hier sei der Brexit beispielhaft – zum „Wechsel von Interessen- zu Identitätspolitik“.

 

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Europa als Bastion der Freiheit?

„Ihr verliert die Türkei“, ruft Can Dündar ins Publikum des Panels „Türkei und Europa“ und fordert deutlichere  Worte und Taten Europas und Deutschlands zur akuten Bedrohung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Der in Deutschland im Exil lebende Dündar ist ehemaliger Chefredakteur der 1924 gegründeten Zeitung „Cumhuriyet“ („Republik“) und u.a. Initiator der Petition #FreeWordsTurkey von Börsenverein des Deutschen Buchhandels, PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen.

Josef Haslinger, österreichischer Schriftsteller und Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, spricht von „Meinungsdiktatur“ in der Türkei, seit Erdogan ab dem Putschversuch im Juli 2016 kritische Medien nahezu komplett ausgeschaltet habe. Dass Haslinger damit nicht  übertrieben hat, zeigt nicht zuletzt die zwischenzeitliche Verhaftung des ebenfalls an der Diskussion teilnehmenden deutsch-türkischen Denis Yücel, bis zu seiner Inhaftierung Türkei-Korrespondent für Die Welt/N24. Dündar fordert Europa auf, zu seinen Prinzipen und Werten zu stehen, um den 50% der türkischen Bevölkerung Rückhalt zu geben, die versuchten, das Land „in den Westen zu ziehen“ statt in den Osten.

„Festung Europa oder Bastion der Freiheit und Menschenrechte“ war das Thema eines weiteren Panels in Kooperation mit ICORN, dem im norwegischen  Stavanger gegründeten International Cities of Refuge Network. ICORN bietet in ihrer Heimat politisch gefährdeten Schriftstellern und Künstlern in über 50 Städten weltweit mit Schwerpunkt in Skandinavien und Europa eine Zuflucht und Bleibe. Die Schriftstellerin Anzhelina Polonskaya (z.B. Libretto zum Oratorio Requiem Kursk, 2011 https://vimeo.com/37096439 ), nahe Moskau aufgewachsen, von 2015 bis 2017 in der „City of Refuge“ Frankfurt am Main lebend, zeichnet ein düsteres Bild von Russland, das in Ihren Worten „seit Peter dem Großen ein Teil von Europa“ ist. Sie fühlt sich in Frankfurt frei und zu Hause, zugleich schmerzen die gekappten Verbindungen zu ihrer Heimat. In Russland zeige sich eine neue Art Faschismus, wo 80 Prozent der Bevölkerung mit ihrem Dasein zufrieden sind, und wo die Propaganda die Jugend, die keine schrecklichen Kriegserinnerungen hat, auf einen dritten Weltkrieg vorzubereiten scheint. Putin, letztlich ein Spiegelbild der Gesellschaft, habe die junge Demokratie komplett zerstört. Der Protest einer kleinen Minderheit von 5 Prozent könne wenig ausrichten und bringe die Akteure in Lebensgefahr. Polonskaya nennt die Beispiele des Politikers Boris Nemzow, 2015 auf offener Straße ermordet, und der Autorin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja („Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“, 2003; „In Putin´s Russland“, 2005), die 2006 im Aufzug ihres Hauses erschossen wurde.

 

Die Sprache von Gibraltar – Welche europäische Identität?

Bei der Podiumsdiskussion, für die der Gedichtband „Die Sprache von Gibraltar“ (2016) des Berliner Autors Björn Kuligk  Pate stand, bricht es aus der flämisch-marokkanischen Autorin Rachida Lamrabet hervor: „Wir kennen einander nicht, insbesondere in Belgien. Wir sind “super divers”, aber wir wissen nichts voneinander, doch wir haben unsere Klischees;” und, exemplarisch auf den “Dschungel von Calais” verweisend, “es ist eine Tragödie was da vor sich geht, und Europa ist dafür verantwortlich… Die Gesellschaft hilft, aber Politiker schaffen Furcht… auf eine Art und Weise, welche die Gesellschaft auseinanderdividiert.” Selbstvergewisserung tue Not, denn:

“Wenn Du weißt, wer Du bist, mußt Du andere nicht fürchten.”

In ihrem 2008 erschienen Buch “Frauenland“ beleuchtet Lamrabet diese Themen: die Suche einer jungen Marokkanerin in Belgien nach ihrem eigenen Weg, die Angst der jungen marokkanischen Männer vor Europa, in dem vermeintlich die Frauen das Sagen haben – „Dort ist sie der Chef und du bist der schmet, der Loser.“ Und darüber hinaus die Frage, was Europa jungen Maghrebinern bietet, bieten kann und was sie in ihren Ländern aufgeben, wenn sie gehen (zit. nach Knoblauch, Zeit Online, 3.2.2010). Vom anderen Ende Europas, aus der Perspektive Russlands, sieht die Frankfurter Übersetzerin Christiane Körner in dem Panel „Wo hört Europa auf?“ Europa als einen „Raum, in dem Rechte garantiert sind“ und wo Rechtsstaat und weitere zivilisatorische Errungenschaften identitätsstiftend wirken: Bildung, Reisefreiheit, Konsum, Besitz, Freizeit, wissenschaftlicher Fortschritt, die Schlussakte von Helsinki. Aus Sicht der russischen Medienpropaganda werde Europa aber auch als „Gayropa“ verdammt; als ein Sodom, das mit „35 Geschlechtsdefinitionen“, sich auflösenden Identitäten, Flüchtlingsschwemmen und islamistischen Terroranschlägen der Rettung durch Russland bedürfe; die für Europa eigentlich identitätsstiftenden Werte Familie, Tradition und christliche Religion würden heute in Russland verteidigt. Diese in Russland durchaus wirksame Propaganda sieht Körner auch im Zusammenhang damit, dass Perestroika und Aufklärung in Russland „negativ besetzt“ seien; sie verweist in diesem Zusammenhang auf die von der Nobelpreisträgerin Alexijewitsch in „Secondhand-Zeit“ dokumentierten Gespräche mit russischen Bürgern.

 

Europa der Werte – kultureller Austausch und „robuste Zivilität“!

Zweifel an der identitätsstiftenden Kraft Europas äußert im Panel „Mehr Europa, aber anders als bisher“ die in Berlin lebende kroatische Autorin Ivana Sajko (Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution), 2014): Was bleibe denn übrig von Europa ohne deutsche Einheit, Kriege und Geschichte? Wo bleibe die Stimme der Linken …

„Who takes care of the people?“

Sajko merkt an, sie sei völlig schockiert aus Budapest zurückgekommen, ihr Glaube an den europäischen Humanismus sei erschüttert. In Kroatien habe der Einfluss der Kirche auf die Politik wieder stark zugenommen. Der Konflikt zwischen lokaler, zunehmend religiös geprägter politischer Praxis und übergeordneten europäische Ideen wie z.B. dem französisch geprägten Laizismus sei nicht zu übersehen. Auch den französischen Autor Mathias Énard („Kompass“, Prix Goncourt 2016) bewegt die Frage nach der europäischen Identität: auf welcher ideellen Grundlage können wir im 21. Jahrhundert Antworten auf drängende Fragen finden, ohne in national oder religiös begründete Identitätspolitiken zurückzufallen? Dass diese Sorge berechtigt ist, bestätigt die Gila Lustiger (Erschütterung, 2016) im Salon „deutsch-französischer Wechselblick auf Europa“: nach den Anschlägen von Paris gebe es eine „Ethnisierung der Konflikte“, keiner sei mehr „Universalist, Franzose … alle reden über französische Identität, nicht über die eigentlichen Probleme“.

Der belgische Schriftsteller Stefan Hertmans („Der Himmel meines Großvaters“, 2014; Die Fremde, 2017) will von einer Identitätskrise nichts wissen und setzt der „angoisse identitaire“ (Heiner Müller) einen nüchternen Pragmatismus entgegen: „Europäer ist einer, der sagt, er sei in einer Krise … schon immer gewesen … also: Schluss damit“. Man müsse vielmehr konkret darüber  nachdenken was Religion bedeutet. Bei der Abgrenzung zum sozio-kulturellen Bereich herrsche Verwirrung, wie z.B. die Aufregung über den Burkini zeige. Der Populismus vermische beides mit Absicht.

„Il faut etre beaucoup plus pragmatique“

Und, unter Bezug auf das 2000 auf Deutsch erschienene Essay „Tödliche Identitäten“ von Amin Maalouf, ruft Hertmans zu „mehr Gelassenheit“ auf! Ein Beispiel für pragmatische Gelassenheit ist Diablog.eu, das von der Berliner Übersetzerin Michaela Prinzinger 2014 gegründete zweisprachige deutsch-griechische Netzportal. Zu dessen 3-jährigem Bestehen schrieb Aris Fioretos, schwedischer Schriftsteller österreichisch-griechischer Herkunft folgende Grußworte: „Verständigung, auch zwischen Kulturen wie der griechischen und der deutschen, geht nur in kleinen, sorgsamen Schritten — in Höhe des Grases. Schönere Wiesen, aussichtsreichere Weiden zu begehen als die von diablog.eu gibt es kaum“ (zit. nach der Website diablog.eu).

Ebenfalls im Panel „Wo hört Europa auf?“ stellt die Ethnologin und Historikerin Elif Dagyeli aus Berlin ihren gleichnamigen Verlag vor, dessen Ziel es ist, mittelasiatische Autoren aus Türkei, Kaukasus, Zentralasien aus den Originalsprachen zu übersetzen. Hier werde deutlich, so die Panelisten, dass Griechenland mit seinen Inseln nicht den Rand Europas markiert; vielmehr stehe die „Mikrogeographie des griechischen Raums“ (Prinzinger) für Europa´s kulturellen Austausch mit Mittelasien, dem östlichen Mittelmeerraum und – von Kreta aus in Sichtweite – Afrika. Den mediterranen Aspekt Europas betont auch der Franzose Énard, der ebenso wie manch anderer Teilnehmer des „Weltempfangs“ die Kraft europäischer Werte nicht zuletzt am Umgang Europas mit der Flüchtlings- und Migrationskrise im Mittelmeerraum messen will.

Nicht allein der freie Austausch von Ideen, gerade auch die freie Äußerung von Meinungen sind grundlegende europäische Werte. Seit Kant sein

„sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

im Jahr 1748 zum „Wahlspruch der Aufklärung“ machte, müssen diese Werte immer wieder neu erkämpft, bestätigt und austariert werden. In der Podiumsdiskussion „Kommunikation und das Internet“ stellt der britische Historiker (und frühere Journalist) Timothy Garton Ash (Redefreiheit, 2016; Karlspreis 2017) zehn Prinzipien für die Redefreiheit in einer (digital) vernetzten Welt vor. Mit der Wiedergabe dreier dieser für Europa wesentlicher Prinzipien beschließe ich meine Nachlese zum „Weltempfang“ der Frankfurter Buchmesse 2016:

  • „Wir nutzen jede Chance, Wissen zu verbreiten, und tolerieren hierbei keine Tabus. …
  • Wir sprechen offen und mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen.
  • Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte. …“

 

Im Oktober 2017

Dr. Klaus Mössle, Rechtsanwalt und Mitbegründer von YOUROPEAN e.V.

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